Längerer Spaziergang, einmal raus aus der Stadt, über die Felder ins Nachbardorf. Wir kommen an einem Hühnergehege vorbei: Ein kleiner Obstbaumgarten mit ca. 15 Hühnern, braune und weiße, vermutlich Hybride. Ein kleines Häuschen als gemauerter Hühnerstall. Ordentlich Platz, genug Raum zum Scharren. Ein, zwei Büsche mehr könnten noch sein, als Schutz von oben. Wir gehen am Zaun in die Hocke, sofort kommen ein paar Hühner anmarschiert, neugierig, schiefgelegter Kopf. Tiefrote Kämme, dichtes Gefieder (kein Hahn zu sehen, der die Hennen bedrängen könnte), die Schnäbel intakt. In Irland während meines Sabbaticals auf dem Lebenshof gab es Hühner, die aus Hühnerfarmen befreit bzw. übernommen worden waren, größtenteils kaputt und mit amputierten Schnäbeln. Diese hier nicht, sie sehen gut aus.
Wie viele Eier legen sie? Können sie brüten? Würden sie, wenn sie könnten? Wenn man hochgezüchtete Hühner aus Legefarmen übernimmt oder auch nur die dementsprechenden Rassen, sind sie auf eine so hohe Legeleistung gezüchtet, dass ihnen dadurch die Knochen weich werden und der Körper auslaugt. Das spezielle Legemehl sorgt für die übersteigerte Legeleistung, das Mehl einfach weglassen geht nicht – die Hühner sind auf die Mineralien angewiesen. Hätte ich Hühner, würde ich deren Eier essen? Wäre dieser Hühnerhalter mein Nachbar, würde ich die Eier annehmen?
Am Wiesenrand sehen wir einige Bienenkästen, ein Imker nutzt die Nähe zu Obstbaumwiesen und Waldrand.
Letzte Woche, Einzelunterricht mit K, der mir nebenbei erzählt, dass er Imkerei als Hobby betreibt. Ich frage interessiert nach und erfahre, dass er hier in Deutschland keine Probleme hat, seinen handgemachten Honig zu verkaufen: Die Nachfrage nach gut produziertem, gar Biohonig ist viel höher als das Angebot, ein Großteil des Honigs wird importiert. Was auf den Markt kommt, ist größtenteils zusammengemischt, Honig aus EU- und Nicht-EU-Ländern steht auf dem Etikett. „Weißt du“, sagt K, „im Supermarkt der Honig, in diesen Plastikflaschen, der wird nie fest! Er steht wochenlang da und er wird nie fest! Wie geht das?“ Er ist leicht empört, da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu, das kann nicht sein. Ich habe gelesen, dass viel Honig aus Südamerika kommt, sage ich. Oft pestizidbelastet. Ja, sagt er, Südamerika – die Pestizide interessieren ihn weniger, aber „diese großen Imker, Südamerika, Nordamerika – die gehen mit den Bienen ganz schrecklich um! Sie machen…“ – er bricht ab, die Vokabeln fehlen ihm, im Detail zu beschreiben, was genau, „ganz schrecklich!“ wiederholt er noch einmal mit Nachdruck, man merkt, dass es ihm mit seinen acht Bienenvölkern, nach denen er täglich schaut nach dem Winter, in der Seele weh tut. Die Bienen haben Probleme, sagt er. Sie verschwinden einfach, die Völker verschwinden, und keiner weiß warum. Es ist ihm auch schon passiert, eines Jahres im Oktober, er kam an seine Bienenkästen und drei davon waren leer, drei Völker einfach verschwunden. Neonicotinoide, denke ich, hochgezüchtete Honigbienen, fehlende Krankheitsresistenz, Milben, Klimawandel, Monokulturen, Agrarindustrie, aber ich sage nichts, weil er die Vermutungen wahrscheinlich selbst kennt und es ihm nicht um das Theorisieren ging, sondern um seine drei Völker, einfach weg, und das macht ihn traurig.
Er möchte mir gern als Dank für den Unterricht ein Glas Honig schenken, sagt er. Ich freue mich sehr, sage ich. Ich habe seit Jahren keinen Honig mehr gegessen: Diesen nehme ich gern.
Wir kommen auf unserem Spaziergang an einer Pferdekoppel vorbei, darauf zwei Großpferde und ein Pony beim Grasen. Friedlicher Anblick. Seit ich denken kann, war es mein Herzenswunsch, mit Pferden zusammenzuleben. Als Mädchen hatte ich, wie so viele, im Reitverein der Kleinstadt Reitstunden genommen. Dort die ganz normale Pferdehaltung der achtziger Jahre: Pferde als Statussymbol, Pferde als Sportgerät. Sechs Schulpferde des Vereins, alle ausgelaugt, alle mit kaputten Gelenken und Rücken. Ständerhaltung. War ein Pferd nicht mehr reitbar, kam es zum Abdecker, kaum ein Schulpferd wurde älter als zwölf, dreizehn Jahre. Im Nachhinein betrachtet macht es mich fassungslos, welche Tierquälerei völlig selbstverständlich hingenommen wurde, von allem im Verein. Ständerhaltung ist leider immer noch nicht bundesweit verboten (in vielen Bundesländern immerhin).
Aber selbst bei einer Gruppenhaltung im offenen Laufstall: Was wäre in Ordnung? Wäre Reiten in Ordnung? Fahren? Welche Interaktion ist in Ordnung bei einem Tier, das als Fluchttier lebt und eigentlich kein Lebewesen auf seinem Rücken dulden würde? Auf Englisch heißt das Einreiten junger Pferde „break in“, entlarvend passend: Das Pferd muss gebrochen werden, bis es den Reiter akzeptiert.
Wir spazieren durch die Felder und sehen Tiere, friedlich, Bauernhof-Idyll. Ich genieße den Anblick, zu viel darüber nachdenken darf ich nicht.