Nach einer unruhigen Nacht, in der ich viel wach lag und von meinem eigenen Stress genervt war, weckte der Wecker uns um kurz nach sechs. Der Kater kam gleich ins Schlafzimmer marschiert und miaute sehr aufgeregt um uns herum, wahrscheinlich spürte er, wie angestrengt ich war. Es fühlte sich an, als hätten wir eine monatelange Reise vor uns, ich ging ständig durch die Wohnung, um sicherzustellen, dass auch alles „ok“ ist für unsere Abwesenheit, als wären wir nicht nach ein paar Tagen schon wieder da (alle Fenster zu? Letztes Geschirr lieber von Hand spülen statt Spülmaschine, damit nichts rumsteht und eintrocknet… Balkonmöbel gegen Sturm gesichert? Kippschalter an den Mehrfachsteckern aus?…).
Der Liebste machte uns ein Porridge, dann gingen wir duschen und hakten die letzten Punkte auf der Erlediliste ab: Die Mäuse der Nachbarn das letzte Mal füttern und ihren Hausschlüssel wieder deponieren, Waschbeutel in den Koffer, letztes Essen aus dem Kühlschrank einpacken. Draußen regnete es, sodass wir Regenjacke und wasserfeste Schuhe anzogen. Bei uns beiden war die Stimmung irgendwie total gedrückt, als hätten wir nicht ein paar Tage Urlaub vor uns, sondern müssten ins Exil fahren. Merkwürdig.
Kurz vor dem Gehen bekam ich eine Infomail aufs Handy: die Regionalbahn würde 10 Minuten zu spät abfahren. Wir gingen trotzdem aus dem Haus, waren natürlich viel zu früh da und standen schlecht gelaunt am Bahnhof. Die zehn angekündigten wurden zu fünf Minuten verspäteter Abfahrt und wir bekamen beide einen Sitzplatz – so langsam besserte sich die Laune. In Stuttgart hatten wir reichlich Zeit zum Umsteigen, holten uns deshalb einen Kaffee und stiegen dann in den Intercity nach Nürnberg, wo wir reservierte Plätze hatten (der Zug war sowieso halb leer).
Im Zug dann fiel das erste Mal etwas die Anspannung von mir ab. Wir kauften uns einen zweiten Kaffee im Zug, ich fing ein neues Buch an und begann mich auf die Reise zu freuen.
In Nürnberg kamen wir pünktlichst an, und da der Regen aufgehört hatte und wir eine freie Bank fanden, konnten wir in Ruhe zu Mittag essen (die Nudeln mit Rumfort-Gemüse aus den Lunchboxen, auch kalt sehr lecker).
Von Nürnberg nach Berlin waren wir im ICE, wo wir keine Plätze mehr hatten reservieren können, wir fanden aber einen freien Zweiersitz. Leider waren um uns herum einige ziemlich laute Kinder – teilweise „normal“ laut (eine gewisse Grundtoleranz muss man ja Kindern gegenüber mitbringen), teilweise inakzeptabel laut, zum Beispiel das Kind hinter uns (das noch in der Extraversion „Zappelkind“ kam und ständig gegen die Lehne knallte, der Liebste drehte sich irgendwann um und sagte ein paar Takte). Lesen ging da nicht mehr, ich setzte mir die Kopfhörer auf und hörte eine Spotify-Playlist. Irgendwann dann, eher aus Langeweile, den dritten Kaffee aus dem Bordbistro (den hätte ich allerdings lieber weggelassen, mein Magen fand ihn doof). Im Großen und Ganzen war die Fahrt aber wirklich okay. Gut gemacht, Deutsche Bahn.
Pünktlich um kurz vor vier kamen wir am Berliner Hauptbahnhof an und wurden vom Lieblingsmenschen S und seinem Partner M am Gleis abgeholt. Uns fielen, selbst für Hauptstadt-Verhältnisse, erstaunlich viele Polizisten auf (am nächsten Tag lasen wir dann, dass einige Tausend idiotische Quer“denker“ trotz Verbot durch die Innenstadt gezogen waren, die Polizei hatte -zig Leute festgenommen, immerhin).
Herzliche Begrüßung, ich freute mich richtig, richtig sehr, auch weil wir gleich wieder sehr vertraut waren. Mit der U-Bahn vom Bahnhof in den Wedding, ich versuchte mich ein bisschen zu orientieren, musste aber gleichzeitig sehr viel schauen – im Wedding war ich noch nie gewesen.
In der Wohnung dann erst einmal ein bisschen umschauen und bewundern (sehr hübsche Zweizimmerwohnung mit kleinem Balkon in einem Altbau, mit hohen Decken und Dielenfußboden, der Balkon nach hinten auf ein parkähnliches Gelände, die Fenster nach vorne auf eine ruhige Wohnstraße mit Kopfsteinpflaster, alles sehr erkennbar in Berlin und gleichzeitig wirklich sehr schön). Dann setzten wir uns auf den Balkon (vier Personen gehen gerade so), tranken Kaffee und Tee und aßen frische Erdbeeren (gibt es tatsächlich noch) und sehr leckeren Pfirsichkuchen, den M gebacken hatte. Dazu natürlich viel quatschen, austauschen, sich auf den neuesten Stand bringen. Wir saßen ungefähr bis sechs Uhr, die Zeit verging rasend schnell.
Irgendwann hatten wir genug geredet und wollten uns ein bisschen umsehen, deshalb bekamen wir von S und M eine kleine Viertelführung durch den Wedding, mit Fokus auf die soziologischen („da wohnen eher jüngere Leute… hier in der Straße sind vor allem Spielhöllen, da drüben dann Spielplätze…“) und praktischen („dort der Biomarkt, wo wir normalerweise einkaufen – außer Petersilie und Dill, das bekommt man mittwochs und samstags auf dem türkischen Markt da hinten“) Aspekte. Zwischendrin wurden wir von einem Regenschauer überrascht und stellten uns an einer Bushaltestelle unter, davon abgesehen hielt das Wetter, es war ziemlich kühl, aber trocken.
Anschließend dann Abendessen, M und S hatten bereits gekocht, wir aßen wieder auf dem Balkon: eine Pfanne mit gebratenen Buschbohnen und Tofu in einer scharfen Soße, dazu ein Riesling. Wir quatschten uns natürlich fest, M servierte irgendwann Kir aus einem französischen Weißwein und Crème de Cassis. Gegen halb elf wurden wir plötzlich von Taschenlampen angestrahlt: Unten im Innenhof standen zwei Polizisten, aber nicht wegen uns, sondern weil sich jemand über Musik „irgendwo hier in der Gegend“ beschwert hätte. Wir hatten keine Musik gehört und schickten sie in den Nachbarwohnblock, gingen dann aber trotzdem gegen elf rein – wir wollten nicht riskieren, dass sie das nächste Mal wegen uns da standen.
M und S gingen dann zu M in die Wohnung, weil S uns freundlicherweise seine Wohnung inkl. Schlafzimmer überließ. Wir rollten unsere Schlafsäcke aus und fielen, beide ziemlich angeschickert, todmüde ins Bett.