Im Mai 2017 starb mit 73 Jahren meine Mutter.
Sie hatte schon seit einigen Jahren unter einer ganzen Reihe von gesundheitlichen Problemen gelitten. Neben Rückenschmerzen, Rheuma und Arthritis waren das Migräne, Asthma, Depressionen, Typ-2-Diabetes und hoher Blutdruck. Gegen die diversen Schmerzen und Beschwerden nahm sie einen ganzen Cocktail an Medikamenten ein, am Ende täglich ca. zwölf verschiedene Präparate.
Im Mai wurde bei ihr eine Aortendissektion vom A-Typ diagnostiziert und sie wurde als Notfall ins Klinikum eingeliefert. Der ganze Vorgang war dramatisch: Eine Aortendissektion macht sich durch starke Schmerzen im Brustraum bemerkbar, die Diagnose muss unter hohem Zeitdruck erfolgen, da die Sterblichkeit direkt nach Auftreten sehr hoch ist. Da das kleine Kreiskrankenhaus zwar die Diagnose stellen konnte, aber keine Möglichkeit für komplexe Herzoperationen hatte, musste sie ins nächstgelegene Uniklinikum verlegt werden. Dort wurde sie sofort als Notfall operiert. In einem aufwendigen operativen Verfahren wurde ihr eine Gefäßprothese eingesetzt und sie stabilisiert.
Auf der Intensivstation war sie die ersten Tage nach der Operation nicht ansprechbar, begann dann aber langsam auf Impulse von außen zu reagieren. Sie schlief sehr viel und bekam starke Schmerzmittel. Dass sie in ihrem Alter einige Zeit brauchen würde, um sich von dem schweren Eingriff zu erholen, war nicht verwunderlich. Sie hatte schon vor dem Notfall keine sonderlich gute Grundkonstitution gehabt.
Ca. eine Woche nach der Operation bekam sie leicht erhöhte Temperatur. Dann etwas stärker erhöht. Dann richtiges Fieber. Ihr wurden Antibiotika verabreicht und es wurde nach der Quelle der Infektion gesucht. Man fand ein Darmbakterium, konnte allerdings nicht sicher sagen, ob dieses die Entzündungsreaktion ausgelöst hatte, da man keinen Entzündungsherd feststellen konnte. Da das gefundene Bakterium gegen das Antibiotikum resistent war, wurde das Präparat gewechselt. Nichtsdestotrotz breitete sich die Entzündung aus. Die peripheren Blutgefäße wurden nicht mehr richtig durchblutet. Der Darm zeigte schwere Durchblutungsstörungen. Dann die Lunge. Dann die Nieren. Sie kam wieder auf den OP-Tisch, um die Durchblutung des Darms sicherzustellen, wurde künstlich beatmet, kam ans Dialysegerät. Die Blutwerte wurden schlechter. Die Fingernägel liefen blau an. Um den Blutdruck zu stabilisieren, wurde ihr intravenös Flüssigkeit zugeführt, wodurch die Lunge zu kollabieren drohte. Es gab keine Anzeichen, dass das Antibiotikum wirkte.
Am 30. Mai starb meine Mutter, tief sediert, mit Fieber, unter Schmerzmitteln, unter künstlicher Beatmung. Die Todesursache war ein Multiorganversagen aufgrund eines septischen Schocks.
Neben aller Trauer bewegen mich seit ihrem Tod einige Gedanken.
Zunächst eine bizarre Ironie. Meine Mutter wurde als Notfall eingeliefert, mit einer lebensbedrohlichen Diagnose, und ihr wurde in einer komplexen Operation das Leben gerettet. Die Chirurgen, mit denen wir direkt nach der OP sprachen, waren zu Recht stolz auf dieses Resultat: Vor Entwicklung der operativen Therapie hatte die Aortendissektion vom A-Typ eine Letalität von 40-80% innerhalb der ersten Woche nach Diagnose. Ein Großteil der Patienten verstarb innerhalb der ersten 24 Stunden. Also ein positives Beispiel moderner Medizin, die mit aufwendiger Diagnostik und ausgefeilter Operationstechnik einen echten Fortschritt in der Behandlung dieser Krankheit darstellt.
Aber dann eine Infektion. Kein Infektionsherd auszumachen. Eine Bakterienbelastung, gegen die kein Antibiotikum hilft, eine Sepsis, die sich ausbreitet und gegen die kein Dialysegerät und kein Beatmungsmaschine etwas ausrichten kann.
Da ist mein Gedanke: Wie frustrierend muss es sein, als Arzt zu arbeiten? Wenn man alles richtig macht, moderne Techniken anwendet, hochkomplexe Operationen erfolgreich durchführt, nur um dann völlig machtlos zu sein gegen eine Infektion, die innerhalb von 2 Wochen den Patienten sterben lässt. Gegen die man kein Hilfsmittel finden kann.
Und warum findet man kein Hilfsmittel? Weil irgendwo ein Bauer seinen Schweinen Antibiotika füttert und dann die mit resistenten Keimen verseuchte Gülle auf die Felder kippt.
Was sich hier darstellt, ist ein massives Versagen der Politik. Dass wir unsere besten Waffen im Kampf gegen bakterielle Infektionen selbst zerstören, kann man alle zwei Wochen in der Zeitung lesen. Das hat massiv damit zu tun, was in der industriellen Landwirtschaft passiert und was politisch gewollt, subventioniert, zumindest geduldet wird. Die sogenannten „Krankenhauskeime“ sind in Wahrheit eigentlich Stallkeime, regelmäßig werden in Fleischproben bei einem erschreckend hohen Anteil multiresistente Keime gefunden. Auch Vegetarier und Veganer sind davor nicht sicher, solang die Gülle aus den verseuchten Ställen unkontrolliert auf die Felder ausgebracht werden darf.
Tod durch septischen Schock steht in Deutschland an der dritten Stelle der Todesursachen, mit steigender Tendenz. In der Todesursachenstatistik taucht sie allerdings nicht auf, weil dort nur die Grunderkrankungen aufgeführt werden. Das ist zumindest zum Teil eine Verschleierung des Problems.
Allerdings macht es bei meiner Mutter auch Sinn, die Grunderkrankung ins Auge zu fassen. Auslöser für eine Aortendissektion ist in den allermeisten Fällen ein über Jahre erhöhter Blutdruck. Gegen den Blutdruck bekam meine Mutter Medikamente, die teilweise zu starken Blutdruckschwankungen führten. Gegen diverse andere Beschwerden weitere Medikamente. Insgesamt war sie regelmäßig bei mindestens vier verschiedenen Ärzten in Behandlung.
Kein einziger dieser Ärzte hat mit meiner Mutter über die Ursachen dieser Beschwerden gesprochen. Die Therapie war auf die Behandlung der Symptome ausgerichtet. Keiner hat meiner Mutter Empfehlungen gegeben, was sie selbst tun könnte, um die Beschwerden zu verbessern (beispielsweise ihr starkes Übergewicht zu reduzieren). Vermutlich zu Recht: Meine Mutter hätte vermutlich mit dem Gedanken, dass sie selbst verantwortlich ist für ihren gesundheitlichen Gesamtzustand, wenig anzufangen gewusst. Das ist für mich ein großes Problem moderner Medizin: Es ist natürlich weniger angenehm, dem Patienten zu sagen, dass er doch bitte 20 kg abnehmen, Fleisch nur einmal die Woche essen und täglich 10 000 Schritte gehen soll, anstatt ihn medikamentös oder operativ zu behandeln. Und versucht ein Arzt es doch einmal mit diesem Ansatz, wird ihm der steakessende Sofasitzer vermutlich ins Gesicht springen.
Für mich ist das zum Teil zumindest ein ermutigender Gedanke: Dass man nicht allen Beschwerden ausgeliefert ist. Dass man die Rahmenbedingungen selbst stecken kann. Dass nicht alle Diagnosen „Schicksal“ sind und man nicht in der passiven Rolle verharren muss.
Aber andererseits ist das vielleicht auch egal, solange wir weiterhin zulassen, dass multiresistente Keime auf den Äckern landen. Was kann ich mit meinem Lebensstil dagegen schon tun?