Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929 – 1939

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Die dreißiger Jahre begleiten mich gedanklich nun schon seit ein paar Monaten, eigentlich seit ich Olympia von Volker Kutschner las und dann kurze Zeit später quasi versehentlich feststellte, dass der in eat.read.sleep erwähnte Hans Fallada sich in einer Schmuckausgabe von Kleiner Mann, was nun? in meinem Bücherregal fand. Nun also Florian Illies, ebenfalls eine eat.read.sleep-Empfehlung. Ich habe ja, da nur noch wenig Kontakt zu Buchhandels-Kolleg:innen oder germanistischen Kommiliton:innen, ein bisschen meine Quellen an Buchempfehlungen verloren, und dieser wunderbare Podcast füllt hervorragend diese Lücke. Einziges Manko: Die Sachbücher fehlen im Bücherportfolio, und da springt nun natürlich Florian Illies in die Bresche. Im weitesten Sinn zumindest: Es ist natürlich ein literarisch gestaltetes Buch über ein literarisches Thema, die Liebesbeziehungen von (größtenteils) Literaten, also quasi so nah an der Belletristik, wie ein Sachbuch nur sein kann. Was aber überhaupt keine Kritik sein soll. Absolut nicht: Was für ein Glücksgriff, was für ein faszinierendes, einzigartiges Buch.

Illies breitet auf über 400 Seiten ein Gemälde der Romanzen, Affären, Beziehungen, Eheschließungen und -scheidungen der intellektuellen Welt Mitteleuropas zwischen 1929 und 1939 aus. Geographische Fixpunkte sind Berlin und Paris, personeller Schwerpunkt liegt auf Schriftsteller:innen und Maler:innen, aber auch Politiker, Sportler, Komponist:innen, Schauspieler:innen und weitere Personen des öffentlichen Lebens tauchen auf. Sowie ihre jeweiligen erotischen Verflechtungen – und liebe Güte, sind diese verflochten und verworren. Hätte ich mir zum Beispiel vorstellen können, dass Erich Maria Remarque für gute anderthalb Jahre flammend in Marlene Dietrich verliebt war, gleichmütig betrachtet von ihrem geduldigen Ehemann (dem sie gleichzeitig Briefe schrieb und mit „tausend Küsse, Mutti“ unterzeichnete)? Oder dass Lotte Lenya Kurt Weill gleich zweimal heiratete – und er in der Zwischenphase, also nach der ersten Scheidung (eine zweite gab es nicht, sie blieben bis zu seinem Tod wieder-verheiratet) ihr Leben mit ihrem Geliebten, dem Starsoporan Otto Pasetti, finanzierte?

Man erfährt viel über die Figuren, immer unter dem Blickwinkel ihrer Liebesbeziehungen – oder ihres Mangels daran. Denn das zieht sich durch das ganze Buch: Es ist eine Versammlung an Männern, die vom Krieg traumatisiert sind, die ihren Emotionen entfremdet sind, die in patriarchalen Strukturen stehen und diese selten hinterfragen, gerade auch jene, die die modernen, in den Büros arbeitenden, hosentragenden Frauen der 20er Jahre durchaus zu schätzen wissen (weil ihnen das Freiheit zur eigenen Unverbindlichkeit gibt).
Diese Abgeschnittenheit von der eigenen Gefühlswelt führt bei manchen zu schwülstigem Nationalismus oder romantisierendem Historizismus, bei vielen aber zu einem kühlen, distanzierten Blick auf die Welt und sich selbst. Was man so die Neue Sachlichkeit nannte – und aus heutigem Blick in Teilen durchaus eine Demontage einiger Geistesgrößen darstellen kann: So manche hätte man eher nicht persönlich kennen wollen, gemessen an der Kaltschnäuzigkeit, in der sie Frauen geradezu verheizten. Um Bert Brecht zu zitieren, der an seine Geliebten schrieb (meist zwei parallel zur Ehefrau): „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Mangelnde Ehrlichkeit kann man ihm da nun nicht vorwerfen.

Ein Feuerwerk an Personen, an Persönlichkeiten, an Netzen und Brüchen, die in vielen kleinen Bruchstücken, mit viel freundlicher Nähe und ironischer Distanz, erzählt wird. Das ganze Buch hat nur 3 Kapitel: davor – 1933 – danach. Ansonsten keine längeren Abschnitte oder Handlungsbögen, diese ergeben sich, weil man den Personen auf ihren verschlungenen und sich ständig kreuzenden Wegen in tausend kleinen Episoden folgt, bis am Ende ein Gesamtbild dieser Zeit entsteht.
Und was für ein Bild: Der Glanz der Goldenen Zwanziger weicht, im Zug von politischer Instabilität, Gewalt und Weltwirtschaftskrise wachsender Aussichtslosigkeit und zunehmendem Zynismus. Die politische Katastrophe wird von quasi allen Geistesgrößen dieser Zeit schon früh wahrgenommen (Gottfried Benn als eine, traurige, Ausnahme). Dementsprechend emigrierte ein großer Teil von ihnen direkt Anfang 1933, oft gewarnt, dass ihre Namen bereits auf „Listen“ stehen, häufig nur mit ein, zwei Koffern und ein wenig Geld.

Manche standen materiell auch im Exil ausgesprochen gut da (Thomas Mann, der sich direkt in Frankreich eine Villa kaufen konnte, dann in Zürich, dann in den USA, im Gefolge neben Ehefrau Katia immer seine jugendlichen und auch erwachsenen Kinder Erika, Golo und Klaus Mann, der bis an sein Lebensende nur noch in Hotels leben würde), andere fielen bodenlos (Else Lasker-Schüler, die in Berlin von SA-Leuten so zusammengeschlagen wurde, dass sie sich die Zunge beinah abbiss und lang nicht mehr sprechen konnte, die dann nach Zürich flüchtete, wo sie die erste Zeit obdachlos in Parks übernachtete, nur mit ihrem Mantel bedeckt, schließlich in einem günstigen Hospiz unterkam, bis man ihr die deutsche Staatsbürgerschaft entzog, sodass sie ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz verlor und ihr nur mit Hilfe von Freunden die Flucht nach Tel Aviv gelang).

Aber ungeachtet der materiellen Umstände war quasi allen die tiefe Verzweiflung gemeinsam, die sie angesichts des Exils, der grauenhaften Zustände in Deutschland, des vor der Tür stehenden (und von jedem geahnten) Kriegs und der generellen Aussichtslosigkeit befiel. Und so zieht sich durch das dritte Kapitel die zunehmende Katastrophe, im Großen wie im Kleinen, das persönliche und berufliche Scheitern, das Versiegen der kreativen Quellen, die Drogen- und Alkoholkrankheiten, die geradezu reihenweisen Selbstmorde. Beinah etwas unvermittelt hört das Buch mit dem Kriegsbeginn 1939 auf – natürlich war das ein zeitgeschichtlicher Einschnitt, im Leben der Hauptfiguren sind häufiger die Jahre davor oder danach aber entscheidender (die Aberkennung von Staatsbürgerschaften wie erwähnt oder der Einmarsch der deutschen Armee nach Frankreich und deshalb die Notwendigkeit der weiteren Flucht oder die Internierung in französischen Lagern).
Dennoch ist der Schlusspunkt gelungen – man muss nicht noch ein Jahr und noch ein Jahr lesen, man weiß ja schon, dass es noch ein Jahr und noch ein Jahr der Aussichtslosigkeit werden wird, more of the same, und das ohne das Wissen um das Kriegsende, das man als Nachgeborene hat. Interessant wäre tatsächlich höchstens ein Folgeband der Nachkriegszeit 1945 bis 1955. Aber man weiß ja schon, wie das aussehen würde: Ein Buch mit größtenteils leeren Seiten. Die intellektuelle Elite Mitteleuropas wurde während der Nazizeit durch Ermordung und Vertreibung gründlich ausgelöscht, und es sollte insbesondere in Deutschland und Österreich Jahrzehnte dauern, bis sich das Land von diesem geistigen Ausbluten einigermaßen erholt hatte.