Kundgebung, hilflos – Samstag 26.2.2022

Um kurz nach sieben aufgewacht, weil das Licht anging, aber nicht das des Lichtweckers, sondern das große, draußen, von uns ungesteuerte. Im März immer das erste Mal das Gefühl, dass es jetzt wirklich Frühling wird, wenn es draußen nicht mehr dunkel ist. Zwar nicht wirklich wach, aber einigermaßen ausgeschlafen war ich schon, der Start in den Tag also nicht so schlecht. (Der Lichtwecker piepste allerdings schon wieder nicht, irgendwas stimmt da mit dem Alarmton nicht.)

Wir hatten zwar ein frisches Brot gekauft, aber ich wollte dringend, endlich mal wieder etwas anderes als Brot haben, also nahm ich mir das Glas Haferkörner, einen Teller und eine Schüssel und ging den Hafer auf Fremdkörper durch. Gleich in der ersten Portion, die ich auf dem Teller ausbreitete, kringelte sich eine kleine Made, was meinem Enthusiasmus in Richtung Haferflocken doch einen gewissen Dämpfer versetzte. Ich setzte sie auf jeden Fall auf den Balkon und sah den restlichen Hafer durch, keine weiteren tierischen Bestandteile. Wirklich wegwerfen wollten wir den Hafer nicht (ein ganzes Glas!), wir stellten ihn also wieder ins Regal und tun morgen so, als wäre nichts drin gewesen. Der Liebste stellte sich dann auf jeden Fall in die Küche und machte uns Pfannkuchen (dafür braucht man Weizen, keinen Hafer), dazu Apfelmus. Hatten wir schon lang nicht mehr, sehr lecker.

Den restlichen Vormittag dann etwas Zeit für uns, Zeitung, Lesen, Twitter. Ich versuchte mich bei allen Nachrichten an den Fakten festzuhalten (was ist passiert, was weiß man?), die Spekulationen (was könnte noch passieren?)  außen vor zu lassen und vor allem bei sämtlichen Aufnahmen von Explosionen und direkten Kriegshandlungen weiterzuscrollen – das hat m.E. nur einen emotionalen, aber keinen Nachrichtenwert, und meine Stimmung war sowieso schon gedrückt genug. Es ist ein merkwürdiges Dilemma: Sich mit dem Krieg in der Ukraine permanent zu beschäftigen, verstärkt nur das Gefühl von eigener Hilflosigkeit. Aber andererseits fühlt es sich auch nicht richtig an, YouTube-Videos zu schauen oder lustige Texte zu schreiben oder sonst irgendetwas Spaßiges zu tun, während nicht weit von uns mitten in Europa ein Land überfallen wurde.
Vom Landesverband Baden-Württemberg der SPD am Freitag eine E-Mail: „Angriff auf die Ukraine – was wir jetzt tun können“, und ich fand den Tonfall und das „wir“ irgendwie ermutigend, wenn auch die Handlungsmöglichkeiten eher eingeschränkt sind (Vorschläge in der Mail: auf Demos seine Solidarität zeigen, Geflüchtete aufnehmen – äh, wie? Wir hätten ein Gästezimmer, ist das ganz wörtlich gemeint? – natürlich spenden, informiert bleiben, keine Fake News verbreiten). In dem Sinn schaute ich nach Kundgebungen in der Region (gibt es logischerweise) und folgte dann noch dem ukrainischen Botschafter in Deutschland und vor allem dem Präsidenten auf Twitter. Sehr beeindruckend, wie er sich momentan darstellt, muss ich sagen. Oder wie jemand auf Twitter schrieb: Es ist nicht verwunderlich in den heutigen Zeiten, dass ein Komiker als Politiker einen guten Job macht, wo gleichzeitig so viele andere Staatschefs als „echte“ Politiker zu Clowns werden.

Zum Mittagessen die zweite Hälfte Quinoasuppe (nicht mehr so richtig lecker, muss ich sagen), danach Grießpudding (kein Espresso, weil wir morgens einen Kanne koffeinfreien Kaffee gemacht hatten – der allerdings leider komplett gar nicht lecker, sondern total sauer war). Kurze Sofapause, dann machten wir uns auf den Weg zum Alnatura. Es war wenig los (und wir brauchten nicht viel), aber der Liebste war angestrengt und genervt von den anderen Leuten und irgendwie standen alle im Weg herum und… überhaupt. Daheim war er reichlich schlecht gelaunt und todmüde und legte sich erst einmal aufs Sofa, während ich die Sachen wegräumte. Ich setzte mich noch eine Viertelstunde zu ihm, in der Hoffnung, ihn zu etwas Aktivität bewegen zu können, aber nach ein paar Minuten war er fest eingeschlafen.

Ich ließ ihn also ihn Ruhe schlafen und ging allein aus dem Haus: Für den Nachmittag war zur Anti-Kriegs-Kundgebung im Stadtzentrum aufgerufen worden und wenn die SPD schon mal aufruft… (Um genau zu sein hatte nicht die SPD aufgerufen, sondern die Jugendorganisationen fast aller großen Parteien: initiiert von den Jusos, dazu Grüne Jugend, Julis und Junge Union, außerdem die JEF (Junge Europäische Föderalisten); die jeweiligen Mutterparteien hatten den Aufruf dann unterstützt).
Die Innenstadt war sehr voll, teilweise natürlich von Samstags-Einkaufenden (es war zwar sehr kalt, aber sonnig), viele Menschen strömten aber so wie ich Richtung Holzmarkt. Der war komplett voll, sicher eine vierstellige Zahl an Leuten. Ich sah diverse Landtags- und Bundestagsabgeordnete, ansonsten eine sehr bunte Mischung an Menschen. Die Redenden gingen alle in eine ähnliche Richtung (und blieben recht vage in ihren Forderungen), nur der Juli-Sprecher bekam ein paar Buhrufe ab, als er forderte, dass Deutschland auch über Waffenlieferungen nachdenken muss (ich hatte das Gefühl, dass ein paar Leute reflexartig zu buhen anfangen, sobald das Stichwort „Waffen“ fällt). Ansonsten war die Atmosphäre friedlich, ein bisschen emotional – man hatte das Gefühl, hier auf der Seite der „Guten“ zu stehen – aber auch ein wenig hilflos. Aber es fanden in ganz Deutschland Kundgebungen statt, das gibt einem wenigstens das Gefühl, dass es mehr als nur 2000 Protestierende sind.

Um kurz vor fünf war die Kundgebung vorbei und die Leute lösten sich langsam auf, standen noch etwas in Grüppchen zusammen. Ich ging noch schnell zum Veganladen (unsere Veg1-Tabletten waren ausgegangen) und dann wieder nach Hause.
Der Liebste war mittlerweile wach und etwas besserer Laune, dafür war ich ziemlich müde. Ich machte eine kleine Handy-Daddel-Pause, dann gemeinsames Kochen. Ich hatte für den Samstag klassisches mach-den-Mann-gücklich-Comfort Food geplant: Kartoffelbrei mit (Tofu-)Würstchen und einer Pilz-Zwiebel-Gravy, dazu Rotkrautsalat. Ich machte dazu eine Flasche spanischen Weißwein auf (mit 13,5% Alkohol und dadurch ausgesprochen schwer und voll schmeckend – als Sommerwein könnte ich ihn mir nicht vorstellen, aber im Februar ging er sehr gut).

Zum Kochen und Essen ließen wir auf YouTube die Bukahara-Playlist laufen (bin immer noch sehr traurig, dass ich ihren Konzerttermin in der Region letztes Jahr verpasst habe, und für das laufende Jahr sind sämtliche Konzerttermine schon ausverkauft). Dann Nachrichten, dann ARD-Brennpunkt, dann Sondersendung – alles sehr monothematisch. Um 9 hatte ich alles zum Krieg an aktuellen Nachrichten, Analysen, Stimmungsbildern und Meinungen erfasst, was mein Kopf erfassen konnte. Der Wunsch des Juli-Sprechers am Nachmittag war im Übrigen schon erfüllt worden, Deutschland liefert Waffen. Ich hätte mir das noch vor wenigen Jahren nicht träumen lassen, aber: Ich denke, ich finde das gerechtfertigt. (Die Waffen werden ja wohl, ich möchte nicht falsch liegen, unentgeltlich geliefert, es geht nicht um schmierige Waffenhändler, die mit Lieferungen in Krisengebiete einen großen Reibach machen – so verstehe ich das zumindest, es sind Lagerbestände der Bundeswehr.)
Auf jeden Fall genug Nachrichten, wir wollten dringend etwas gute-Laune-Content, deshalb sahen wir eine Folge Queer Eye goes Japan. Hm. Sehr amerikanisch, sehr viel Feel-Good-Oberflächlichkeit… aber irgendwie, vor allem beim zweiten Glas Wein, das Richtige für den Abend. Yas Queen.