Studienreflexionen, Ostersonntag 17.4.2022

Um zehn vor sechs wachte ich ausgeschlafen aus, schaute dem Dämmerlicht zu, das durch die Fensterläden fiel, und hörte mir die tschilpenden Vögel an. Sehr friedliche Atmosphäre und einigermaßen friedliche Gedanken bei mir: Ich beschloss aufzustehen und den Liebsten noch etwas schlafen zu lassen. Unten begrüßte ich erst einmal den Kater, der sein Nassfutter aber ausgesprochen doof fand und sich stattdessen kampfschnurrend auf die obere Etage des Kratzbaums legte. Ich ließ ihn liegen und beschäftigte mich etwas mit Tee und Schreiben.

Ostersonntag und wir hatten keine Pläne außer es uns gutgehen zu lassen. Um halb acht ignorierten wir gekonnt die Kirchenglocken (das muss irgendeine Frühmesse oder so gewesen sein – für die klassische Osternachtsfeier eigentlich zu spät). Stattdessen ein Smoothie zum Frühstück und ein bisschen lesen, ein kurzer Blick auf Twitter, ein kurzer Gang in den Garten (die rosafarbenen Tulpen blühen jetzt auch). Außerdem fiel mir am Vormittag ein, dass es ja Ostersonntag war, also FASTENZEIT VORBEI! Und wir hatten ein paar Schokohasen und Osterschokolade und ähnliches im Schrank. Ich holte also, sehr zur Freude des Liebsten, den veganen Lindt-Hasen (…in grün) an den Esstisch.
…tja, was kann man sagen. Ich bin ja sowieso kein großer Schokofan, und nach sieben Wochen ohne Schokolade (mehr oder weniger)… ich war völlig überfordert davon, wie unfassbar SÜSS diese Schokolade ist. Der Liebste fand sie lecker und ich denke, eine Menge Leute würden ihm zustimmen, aber mein Fall war es wahrlich nicht. Trotzdem aß ich natürlich die Hälfte des Hasen, einfach weil er da war, und hinterher war mir schlecht und ich ärgerte mich etwas über mich. Doof.

Ich musste also ein bisschen warten, bis mein Magen wegen der Schokolade nicht mehr beleidigt war, aber dann ging ich nach oben und startete Adrienes Yogaprogramm: Move Tag 1, Here. Sehr anstrengend („your arms might start to shake a little, but bear with me“), aber ich konnte alles mitmachen und hielt die halbe Stunde komplett durch. Sehr zufrieden danach. Mal sehen, wie lang ich für die 30 Tage brauche.

Zum Mittagessen hatte ich eigentlich die zweite Hälfte der Pizza geplant, aber die hatten wir ja am Vorabend schon komplett aufgegessen, also mussten wir etwas improvisieren. Mit dem restlichen Brokkoli, einer Frühlingszwiebel und dem angebrochenen Glas Sugo machten wir eine Pastasauce mit Nudeln. Das war leider nur so halb lecker, vermutlich weil die gekaufte Sugo als Basis nicht so richtig gut schmeckte. Der Liebste war etwas unzufrieden, ich fand es schon okay (man kann nicht immer kulinarische Höhenflüge haben).
Den Espresso nahmen wir auf der Dachterrasse: Runter mit der Abdeckung, her mit den Sitzkissen. Hihi. Ich holte mir dazu ein neues Buch, um genau zu sein ein altes, das bei mir schon lang im Regal mit den Büchern aus dem Geschichtestudium steht, in das ich aber noch nie so richtig einen Blick geworfen hatte. Es war vermutlich, direkt nach dem Mittagessen, auf den Balkonmöbeln in der Frühlingssonne, nicht der beste Zeitpunkt, um damit anzufangen. Ich hielt trotzdem tapfer eine Stunde durch, dann gingen wir wieder rein: Es war ziemlich warm, außerdem wollten wir uns etwas bewegen.

Der Liebste holte beim Bastelverein kleine Bauteile, die er vom 3D-Drucker hatte drucken lassen, ich begleitete ihn und wir gingen anschließend eine Runde spazieren. Die FDDB-App gibt übrigens für Spaziergänge ein völlig anderes Kalorienspektrum an als für Wanderungen, obwohl die Beschreibung bei letzterem „gemütliches Wandern wie bei einem Ausflug“ lautet – die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte. Da wir beide tendenziell schnell gehen und eigentlich sämtliche anderen Spaziergänger überholen, gebe ich dann doch eher „wandern“ an.
Auf jeden Fall schönes Wetter, sonnig, aber mit recht kühlem Wind, so ganz im T-Shirt ging es nicht. Wir gingen eine mittelgroße Runde das Flüsschen entlang, runter bis fast zum Hundesportplatz, und waren nach knapp zwei Stunden wieder daheim. (8 Kilometer, sagte die Wanderapp des Liebsten.)

Daheim goss ich dann den Vorgarten, und dann war es schon halb sechs und ich war ziemlich, ordentlich müde. Keine Lust auf irgendwas, keine Lust, diszipliniert zu sein, und meine Laune war irgendwie im Keller. Ich legte mich also mit Laptop aufs Sofa, während der Liebste in der Küche verschwand: Zum Ostersonntag gehört auch ein Osterlamm. Das hatten wir eigentlich am Karsamstag schon backen wollen, aber naja. Der Biskuitteig war schnell angerührt, die Lamm-Backform kam in den Ofen, und wir setzten uns ein bisschen zum Quatschen an den Esstisch.

Ich dachte nämlich darüber nach, warum ich mich plötzlich so schlecht und unzufrieden fühlte. Klar, Feiertag, Sonntag, viel daheim – immer ein Stimmungsdrücker, dann natürlich sowieso Pandemie und Krieg und Weltlage, man hat ja quasi keine Chance mehr auf unbeschwertes Fröhlichsein. Aber irgendwie war es noch etwas mehr, und nach ein bisschen Nachdenken kam ich drauf: Es war das Buch, in das ich mittags reingeblättert hatte.
Ich habe ja (unter anderem) neuere Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte studiert, und das Buch (eine Monografie zur kulturhistorischen Entwicklung Westdeutschlands ab den fünfziger Jahren) war von meinem damaligen Professor geschrieben, in Zusammenarbeit mit einigen Personen, mit denen ich im Studium viel zu tun gehabt hatte. Ich kannte also quasi den ganzen Autorenstamm persönlich, alles sehr nette (und absolut brillante) Leute. Und das Buch zu lesen (ich las nur die halbe Einleitung) versetzte mich sofort wieder in die Hauptstudiumszeit zurück: Dieser sprachliche Duktus, der jedes einzelne Wort so exakt setzt und gleichzeitig mit einer Komplexität versieht, überall Querverbindungen und Bezüge herstellt, jeden Halbsatz so mit Bedeutung auflädt, dass man alles dreimal lesen muss und am Ende dennoch nicht sicher ist, ob man wirklich folgen kann. Ich hatte mich über lange Strecken meines Studiums immer irgendwie defizitär gefühlt, immer ein bisschen zu langsam, immer ein bisschen zu dumm (von der fehlenden sprachlichen Eloquenz mal ganz abgesehen). Ein Gefühl, das ich vor meinem Studium nicht kannte (und das sich, ganz nebenbei, auch nicht in den Noten widerspiegelte). Ich war damit im Übrigen absolut nicht die einzige, wir taten uns alle unglaublich schwer, die dicht und komplex geschriebenen Texte zu durchdringen (und damit meine ich absolut nicht die Quellentexte, mit Quellen umzugehen war immer eine Freude, es war die sekundärliterarische Metaebene, die so schnell zu einem Dickicht wurde). Quasi alle, mit denen ich im Geschichtestudium zu tun hatte, sagten zum einen oder anderen Zeitpunkt von sich, sie seien „langsame Leser“. „Ich muss schauen, wie ich das in der nächsten Woche hinbekomme, ich lese ja so langsam.“ „Kein ganz einfaches Hausarbeitsthema, ich lese ja nicht so schnell wie der Durchschnitt.“ „Ich brauche halt einfach so lang, bis ich einen Artikel durchhabe.“
Jetzt ist es ja rein rechnerisch nicht möglich, dass alle Studierenden langsamer lesen als der Durchschnitt der Studierenden. Aber das Gefühl war irgendwie bei allen gleich. (Sogar die – immer männlichen – Großmäuler aus dem Grundstudium waren spätestens im Hauptstudium einigermaßen zurechtgestutzt, oder sie hatten sich für ein anderes Studium entschieden.) Ich denke manchmal, wir hätten im Studium mehr Strategien vermittelt bekommen müssen, mit dem permanenten Gefühl der Überforderung zurechtzukommen. Es war ja nicht nur die Komplexität der Texte, sondern die schiere Masse der Publikationen. Die reinste Flutwelle.

Auf jeden Fall unterhielt ich mich darüber mit dem Liebsten und darüber, dass ich denke, dass es nach dem Magister die richtige Entscheidung war, keine Promotion dranzuhängen, weil ich weitere drei bis vier Jahre Unzulänglichkeitsgefühl nicht durchmachen wollte (und es mir für die „Karriere“ vermutlich auch nicht geholfen hätte, eine akademische Laufbahn an der Uni konnte ich mir nicht vorstellen). Und trotzdem ist da der nagende Gedanke, dass mir etwas fehlt, dass ich mein Potential nicht ausgeschöpft habe. Zu früh aufgegeben.
Der Liebste sagte dazu, etwas überraschend für mich, erstens dass er das Gefühl der Überforderung anhand der Komplexität der Texte auch aus seinem Informatik-Studium kennt (noch bis zum Ende des Studiums, wo man das doch alles können sollte, haha, hahahaha), es liegt also vermutlich auch ein bisschen in der Natur der Dinge und nicht einfach „an mir“. Und zweitens ist aufgeschoben ja nicht aufgehoben, was eine Promotion angeht. Vor allem, wenn es mir um mich selbst und mein eigenes Potential geht und nicht darum, eine Karriere an der Uni anzustreben.
Naja. Stimmt zwar einerseits, es gibt eine Menge Leute, die in ihren Vierzigern oder Fünfzigern oder sogar im Rentenalter noch promovieren, aber andererseits gibt es ja schon auch Sachzwänge. Den Lebensunterhalt zu verdienen beispielsweise. (Ich arbeite ja nicht gerade in einem Gehaltsspektrum, in dem ich große Rücklagen bilden könnte. Keine Kinder und keine nennenswerte Karriere, das ist ein Lebenskonzept, das eher auch nicht so vorgesehen ist.) Außerdem: Wenn Promotion, dann in der Linguistik, meiner großen Liebe. Da hatte ich mich tatsächlich marginal weniger lost gefühlt als in Geschichte, nicht dass das eine Promotion einfacher gemacht hätte.

Im Backbuch sah es hübscher aus.

Auf jeden Fall tat mir der Austausch gut, ich fühlte mich etwas besser (und wieder etwas in der Gegenwart angekommen) und wir gingen gemeinsam ans Kochen, eine Linsen-Kichererbsen-Tomatensuppe (Rezept aus dem Dezemberheft VF&L), die wir mit einer Scheibe Brot zusammen aßen, sonst wäre es etwas wenig gewesen. Dann ließen wir den Fernseher aus (ich hatte keinen Nerv für bewegte Bilder), stattdessen Laptopzeit (und dort YouTube mit natürlich auch bewegten Bildern, ich habe nie behauptet, sonderlich konsistent oder logisch in meinen Entscheidungen zu sein). Außerdem Ende der Fastenzeit: Wir öffneten eine Flasche fantastischen Riesling (und das sage ich als nicht-so-Riesling-Trinkerin). Hihi.
Gegen Viertel nach neun war dann auch das Osterlamm soweit abgekühlt, dass wir es aus der Form holten und anschnitten. Leider brach uns dabei der Kopf auseinander, was aber egal war, weil er sowieso sofort gegessen wurde. Fluffig, nach Mandeln und Vanille schmeckend, sehr schön. Gute Ostertradition.