Achtung: Das ist ein sehr langer Text. Aber er handelt auch von einer sehr langen Zeit. Und von sehr vielen Tieren.
Die ersten Kaninchen zogen bei uns ein, als ich bei meinem Mann das obere Stockwerk im Haus gemietet hatte und wir noch gar kein Paar waren, vor jetzt ziemlich genau zwölf Jahren. Im hinteren Teil des Gartens hatte er eine Holzhütte selbst gebaut, ursprünglich als Ziegenstall, weil er einmal für ein paar Monate ein Pärchen junge Ziegen im Garten einquartiert hatte, aber das ist eine andere Geschichte. Der Ziegenstall war also noch da und stand mehr oder weniger ungenutzt herum, bis die Tochter, damals elf Jahre alt, die Kaninchen anschleppte. Die Kaninchen hatte sie daheim von ihrer Mutter bekommen, wie man halt, wenn man nicht für fünf Sekunden nachdenkt, quengelnden Kindern Kaninchen kauft, und als die Tochter dann keine Lust mehr hatte, regelmäßig nach den Kaninchen zu schauen und die Mutter noch weniger Lust, drohte sie, die Tiere „wegzugeben“, was für ein wunderbarer Euphemismus. So kamen sie also zum Liebsten, der der bettelnden Tochter nachgab.
Anfangs waren es fünf: Blacky, Fanny, Sunny, Rocky und Hoppler (ja, die Namen hatte natürlich die Tochter ausgesucht, hier bitte verdrehte Augen dazu denken). Fanny war die Mutter von Rocky und Sunny, Produkt eines Nachmittags, als die Tochter die Kaninchen „zum Spielen“ zum Nachbarkaninchen mitgenommen hatte (Augenverdreh Teil zwei), die anderen nicht verwandt.
An Blacky erinnere ich mich wenig, nur dass sie ein außergewöhnlich hübsches Kaninchen war, schwarzbraunes Fell mit schwarzer Maske und mit silbergrauen Haarspitzen, die im Licht reflektierten. Sie lag eines Morgens tot im Stall, hatte davor keine Krankheitsanzeichen gehabt und wurde das erste Kaninchen, das wir im Garten begruben, hinten links unter dem Forsythienstrauch. Sie war ungefähr sechs Jahre alt, als sie starb.
Wir hatten also eine ganze Zeit lang vier Kaninchen (der Liebste und ich waren mittlerweile ein Paar geworden und ich deshalb in Tierhaltungs-Entscheidungsprozesse mehr involviert), die sich den kompletten Ziegenstall teilten, auf mehreren Ebenen, die der Liebste mittlerweile eingebaut hatten. Was genau den Ausschlag gab, weiß ich nicht mehr, aber nach ca. einem Jahr mit vier Kaninchen entschieden wir, im Tierheim ein weiteres dazu zu holen. Daraus wurden dann zwei, ein Brüderpärchen, die mit den geradezu hanebüchen bescheuerten Namen „Christiano“ und „Ronaldo“ zu uns kamen (ja, natürlich war dort auch einem Kind die Namensgebung überlassen worden, natürlich hatte das Kind dann die Lust am Spielzeug Kaninchen verloren, natürlich hatten die Eltern dann die Tiere ins Tierheim abgeschoben und ihren Kindern so seelenruhig beigebracht, dass man Tiere einfach entsorgen kann, wenn man keinen Bock mehr auf sie hat – aber was rege ich mich auf). Da die beiden vor dem Einzug bei uns noch vom Tierheim kastriert wurden, tauften wir sie prompt in Schnipp und Schnapp um, aber innerhalb kürzester Zeit nannten wir sie nur noch Weißmaus (der hübsche weiße mit schwarzen Flecken) und Schwarzmaus (der rein schwarze).
Weißmaus und Schwarzmaus kamen im Ziegenstall erst einmal in einen extra Hasenstall, wo sie durch ein Gitter getrennt waren, die anderen aber beschnuppern konnten – eine saublöde Idee, wie wir später erfuhren. Überhaupt machten wir bei unserer ersten sogenannten „Vergesellschaftung“ ziemlich viel falsch, vom ersten Beschnuppernlassen (wird von den etablierten Kaninchen als Eindringen ins Revier aufgefasst) über den Kontakt auf bekanntem Terrain (dito) bis hin zur Tatsache, dass die beiden Jungs bei Einzug ca. ein Dreivierteljahr alt waren und deshalb in ein Alter kamen, in dem mit Gekloppe zu rechnen war. Leider kam es genauso: Die beiden verstanden sich sehr bald überhaupt nicht mehr, bis wir sie schließlich trennen mussten. Die Schwarzmaus freundete sich mit Fanny gut an und kam auch mit den anderen dreien gut zurecht, aber die Weißmaus wurde leider so viel weggebissen, dass wir ihn schließlich extra hielten, was auf Dauer natürlich keine Lösung war. Es war herzzerreißend: Die beiden waren anfangs sehr freundliche und neugierige Kaninchen gewesen, jetzt wurde die Schwarzmaus uns gegenüber extrem scheu (das sollte er bis zum Ende nicht mehr ganz ablegen) und die Weißmaus verkümmerte in Einzelhaltung. Da musste eine Änderung her.
Ein Problem in der Gemengelage war, dass Hoppler ungefähr zu diesem Zeitpunkt krank wurde, zusammengekrümmt da saß (ein Schmerzzeichen) und nicht mehr gut fraß. Die Tierärztin diagnostizierte einen recht großen Gebärmuttertumor mit eher schlechten Behandlungsaussichten. Noch während wir am Überlegen waren, was wir machen, bekam Hoppler, vermutlich durch die Panik des Tierarztbesuchs, einen Herzschlag und war tot. Sie war das einzige Widderkaninchen gewesen, das wir hatten, immer sehr freundlich, ließ sich streicheln und nahm Futter aus der Hand. Sie war in der Gruppe klar die Ranghöchste gewesen und hatte viel Ruhe reingebracht – mal abgesehen davon, dass sie sehr futterneidisch war und zur Futterzeit immer versuchte, aus mehr als einer Schüssel gleichzeitig zu fressen (aber das war für sie stressiger als für alle anderen, vor lauter Hin- und Hergerenne und Schüsselbewachen kam sie kaum selbst zum Fressen). Sie wurde zwölf Jahre alt, wir begruben sie direkt unter dem großen Ahorn und pflanzten ein paar Tulpenzwiebeln, die noch ein paar Jahre blühten.
In diesem Kontext kam eine Freundin auf uns zu: Sie hatte sich vor nicht allzu langer Zeit von ihrem Mann getrennt und war aus dem Haus in eine Wohnung mit Balkon gezogen, die beiden Kaninchen kamen vom Garten ins Kinderzimmer. Dort merkte sie schnell, dass Hasen im Kinderzimmer eine ganz, ganz dumme Idee sind, und stellte einen Stall auf den Balkon. Nur war der nicht ausreichend wind- und regengeschützt. Nachdem die beiden Kaninchen mehrmals hintereinander krank gewesen waren (und Schnupfen für Kaninchen eine ernste Gefahr ist), fragte sie uns, ob wir ihre Kaninchen aufnehmen würden. Gesagt, getan, aber wir entschieden, es dieses Mal richtig anzugehen und jetzt die ganze Gruppe auf neutralem Grund zu vergesellschaften und dabei auch die Weißmaus wieder mit zu integrieren.
Wir bauten also unsere Dachterrasse zum neutralen Freigehege mit Ställen und Sonnenschutz um (es war April, eine gute Jahreszeit für so eine Art Projekt) und führten in ca. vier Wochen die Gruppe wieder zusammen. Das klappte ganz gut und wir konnten alle gemeinsam wieder zurück in den Hasenstall bringen. Die beiden Neuzugänge, die braun-weiße Milli und der braune Rokko, integrierten sich prima, Milli übernahm die Leitungsposition (Sunny war zwar älter, aber genauso wie ihr Bruder Rocky ein sehr kleines Kaninchen, die beiden gingen Stress gern aus dem Weg).
Die Gruppe teilte sich also etwas auf. Die Weißmaus war zwar nicht mehr getrennt von den anderen, aber immer noch leider in einer Außenseiterposition – es waren jetzt ja auch vier Böckchen, und da Hasen sich gern in gemischtgeschlechtliche Pärchen aufteilen, blieb er ein bisschen außen vor. Es tat mir wirklich sehr leid für ihn, wir wollten allerdings kein weiteres Tier aufnehmen, da der Stall mit jetzt sieben Kaninchen recht voll war und die Vergesellschaftung so aufwendig gewesen war. Leicht hatte er es nicht: Eines Mittags kamen wir zum Stall und sahen ihn in einer Blutlache sitzen – irgendjemand hatte ihm wohl eine Kralle durchs Gesicht gezogen und die untere Lippe aufgeschlitzt. Da er so nicht fressen konnte, mussten wir das sofort behandeln lassen, auch wenn es Sonntag war (was für ein Tag auch sonst). Der Tierarzt im Notdienst nähte ihm die Unterlippe also in Fitzelarbeit wieder zusammen, sie heilte auch schön, aber die Weißmaus wurde danach leider deutlich scheuer uns gegenüber als vorher.
Die nächste in der Altershierarchie war Fanny, auch sie ein weiß-braunes Kaninchen. Sie war zwar die älteste, hatte aber keine Führungsambitionen, steckte immer mit der Schwarzmaus zusammen. Als sie einige Zeit krank war und wir sie isoliert halten mussten (sie hätte die Kälte draußen damals nicht vertragen), kam er mit ihr zusammen ins Krankenlager, das funktionierte wunderbar. Erstaunlicherweise konnten wir sie dann auch wieder nach zwei Wochen direkt in die Gruppe zurücksetzen, mussten nur das Fell der beiden etwas mit Stroh und Einstreu aus dem Stall einreiben, damit sie den Gruppengeruch wieder annahmen, dann war alles ok. Sie war ein freundliches Kaninchen, außer wenn sie im Frühjahr in die Nestbauphase kam und begann, Stroh durch die Gegend zu tragen und eine Ecke im Gehege mit ausgezupftem Fell zu polstern. Das war zwar unglaublich niedlich, führte aber auch dazu, dass sie uns gegenüber bissig wurde und man auf seine Hände aufpassen wurde. Von diesen Wochen im Jahr abgesehen war sie aber sehr unkompliziert.
Fanny hatte eine robuste Gesundheit, aber irgendwann setzte ihr das Alter zu: Der Fellwechsel klappte nicht mehr so richtig, sodass sie recht struppig aussah, die Verdauung lief nicht rund, sie neigte zu Durchfall und nahm ab, wir hatten auch das Gefühl, dass sie nicht mehr gut sah und roch. Dabei zeigte sich eine sehr unangenehme Eigenschaft von Kaninchen, diese niedlichen Gesellen können nämlich echte Drecksäcke sein: Als Fanny alt und kränker wurde, begannen die anderen sie gnadenlos zu verbeißen. Wir bemerkten das leider erst recht spät, als sie schon einige Bisswunden davongetragen hatte. Die einzige Lösung war, sie von den anderen zu trennen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt ordentliche Atemprobleme, vermutlich Wasser in den Lungen ausgelöst durch einen Lebertumor. Sie blieb noch ein paar Wochen in einem extra Stall mit kleinem Freigehege und hatte noch einen Frühling, bis wir beschlossen, sie einschläfern zu lassen. Alles, was so ein Kaninchenleben schön macht, hatte sie sowieso nicht mehr: Das Fressen klappte nicht mehr gut, sie konnte nicht mehr in die Gruppe, die Augen machten nicht mehr mit… und sie wäre über kurz oder lang erstickt. Damit war die Sache eigentlich klar, trotzdem war es eine merkwürdige Entscheidung, die Tötung eines Tiers in Auftrag zu geben. Es dauerte auch recht lang, bis das Herz wirklich aufhörte zu schlagen, die Tierärztin musste zweimal nachspritzen (nicht, dass sie davon was gemerkt hätte, sie war zu dem Zeitpunkt tief in Narkose). Sie wurde methusalem-ähnliche 13 Jahre alt und wir begruben sie mit ein paar Narzissen links neben dem Zierpflaumenbaum.
Nun waren es also wieder sechs Kaninchen, davon vier Böckchen, eher nicht optimal. Zu diesem Zeitpunkt fragte eine Freundin, ob wir uns vorstellen könnten, ihre zwei Kaninchen aufzunehmen: Sie hatte eine Stelle in Berlin bekommen und würde mit ihrer Lebensgefährtin umziehen, und sowohl den Umzug als auch dort eine eingeschränkte Wohnungshaltung wollte sie den Tieren nicht zumuten (an einen Garten war in Berlin nicht zu denken). Wir überlegten also ein wenig hin und her und beschlossen dann, ein Großprojekt in Angriff zu nehmen: Wir bauten an den Ziegenstall ein überdachtes Freigehege an und verdoppelten damit die Hasenfläche. Dann bauten wir zum zweiten Mal die Dachterrasse als Vergesellschaftsraum um und brachten dann die beiden neuen Hasen mit den sechs alteingesessenen zusammen.
Die Neulinge waren Lotte, eine schwarze Häsin mit weißer Pfote und weißem Brustfleck, und Joschi, ein schwarz-braun-weiß geflecktes Kaninchen. Die Vergesellschaftung klappte dieses Mal nicht ganz so problemlos, acht Hasen waren einfach eine recht große Zahl. Beim Rückzug ins jetzt vergrößerte Gehege zeigte sich, dass der äußere Bereich wenig angenommen wurde und sich alle drinnen drängten, was zu Reibereien führte und dazu, dass manche Hasen (Milli und die Schwarzmaus oben, die Weißmaus im linken Stall) einen sehr eingeschränkten Bewegungsradius hatten. Wir beschlossen also, Lotte, Joschi, Rokko und die Weißmaus ins äußere Gehege zu setzen und die beiden Bereiche durch eine Tür abzutrennen. Das brachte viel Ruhe rein, auch wenn draußen die Zusammensetzung mit einem Weibchen und drei Böckchen nicht super war. Lotte und Rokko freundeten sich gut an, Joschi und die Weißmaus blieben mehr für sich.
Leider begann Joschi recht bald unter einem hartnäckigen Schnupfen zu leiden. Wir waren mehrfach beim Tierarzt und probierten verschiedene Medikamente und Behandlungsmethoden aus, aber nichts schlug so richtig an. Mal wurde es für einige Wochen besser und wir dachten, er wäre über den Berg, dann begann es wieder mit den Niesanfällen. Was niedlich klingt, war für ihn richtiggehend quälend, man merkte ihm an, dass er schlecht Luft bekam und es ihn Kraft kostete. Zum Herbst hin schien es aber wieder langsam besser zu werden und wir hofften, dass er sich, von einem leichten chronischen Hintergrundschnupfen abgesehen, wieder berappelt hatte. Im November 2015 flogen wir in den Herbstferien eine Woche in den Urlaub und unsere Nachbarn kümmerten sich um die Tiere. Nach ein paar Tagen der Anruf auf dem Handy, dass Joschi tot im Stall lag. Wir vermuteten, dass der Dauerschnupfen irgendwann dem Herzen zu viel wurde, Schnupfen ist wie gesagt für Kaninchen ein richtiges Problem. Der Nachbar fragte, ob er mit seinem Sohn zusammen Joschi beerdigen dürfte, der Sohn (damals Grundschulkind) war nachvollziehbarerweise recht erschüttert über den Tod und der Vater versprach sich einen gewissen pädagogischen Effekt. Wir waren natürlich einverstanden, als wir zwei Tage später wieder nach Hause kamen, fanden wir ein kleines Grab mit selbst gebasteltem Holzkreuz rechts hinten in der Gartenecke. Auf das Kreuz hätte ich zwar verzichten können, aber es war schon ok. Es tat mir leid, dass wir Joschi nicht hatten helfen können.
Draußen also nur noch drei Kaninchen, die Weißmaus wurde seine Außenseiterstellung einfach nicht los, während Rokko und Lotte sich prima verstanden. Das war eine Erfahrung, die wir sowieso mehrfach machten: Wenn die Menschen ein Kaninchenpaar zwangsweise zusammensteckten, dann kamen sie zwar notgedrungen schon miteinander zurecht, ließ man den Tieren in einer großen Gruppe aber die Wahl, dann suchten sie sich sehr schnell eigene Partner. So waren Milli und Rokko innerhalb kürzester Zeit nicht mehr aneinander interessiert, Weißmaus und Schwarzmaus gingen sogar aufeinander los (bei zwei jungen Böckchen kein Wunder, wer kommt nur auf solche Ideen?), und auch Lotte und Joschi tolerierten sich höchstens. Als Joschi starb, war Lotte also nur wenig tangiert.
Lotte war ein echtes Kämpferkaninchen, recht groß und kräftig und vor allem erstaunlich mutig. Wenn sie fürs Krallenschneiden dran war, mussten wir sie erst zu zweit in eine Ecke drängen, und selbst dann gab sie noch nicht auf. Festhalten war kaum möglich, die Tierärztin wurde vorher dementsprechend gewarnt. Sie zeigte wenig zyklustypisches Verhalten, ich habe sie nie Nestchen bauen sehen, sie war das ganze Jahr über offensiv. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, dass sie je gebissen hätte. Ich mochte sie sehr gern. Als sie eines Tages morgens nicht zum Fressen kam, waren wir dementsprechend besorgt. Rokko beschnüffelte sie und sie rannte davon und zog sich in eine der Kisten zurück. Zwei Stunden später, als ich nach ihr schaute, nahm sie mir aber ein Stück Mais aus der Hand, sodass ich davon ausging, das sie sicher irgendetwas hatte, aber man noch einen Tag beobachten konnte. Wenn ein Kaninchen das Fressen einstellt, ist das immer ein großes Alarmzeichen, da sie noch Fressen annahm, entschieden wir auf etwas Abwarten. Das war offensichtlich ein Fehler: Am nächsten Morgen lag sie tot im Stall.
Wir hatten Joschi und Lotte beide als letztes bekommen und als erstes verloren, Lotte war insgesamt vielleicht drei Jahre bei uns, sie wird ca. sechs Jahre alt geworden sein. Wir begruben sie unter dem großen Ahorn an der Ecke, zwischen Hoppler und Joschi.
Im Außengehege waren also nur noch die Weißmaus und Rokko, keine sinnvolle Kombination. Unsere Nachbarn (die mit dem Begräbnis) hatten sich einige Zeit vorher selbst zwei Kaninchen in den Garten getan, von denen eines gestorben war, es war also eins übrig, ein Weibchen – was lag näher, als es bei uns aufzunehmen.
Also wieder umstrukturieren: Milli und die Schwarzmaus bekamen im Ziegenstall die obere Etage, bei der wir mit einem extra Gitter den Zugang nach unten blockierten, die Weißmaus wurde im Ziegenstall unten zu Sunny und Rocky einquartiert. Die beiden waren über die ganzen Jahre unsere beiden unproblematischsten Kaninchen: Nie in irgendeiner Weise krank, was erstaunlich war, denn beide waren auf extreme Verzwergung hin gezüchtet, was zu vielen Problemen führt. Sunny war ganz weiß und hatte recht kurzes Fell, Rocky schwarz-braun meliert mit einer typischen Löwenköpfchen-Mähne (er war kein reines Löwenköpfchen, aber irgendwo hatte unter seinen Vorfahren eines mitgemischt). Die beiden akzeptierten die Weißmaus problemlos, auch wenn er ungefähr anderthalbmal so groß war.
Rokko, der draußen allein war, bekam also die Nachbarhäsin Bella dazugesellt: Ein rotbraunes Hasenkaninchen, das das Veterinäramt bei einem „Hobbyzüchter“ aus schlechter Haltung sichergestellt hatte. Sie sah für mich immer wie ein „prototypisches Kaninchen“ aus, erinnerte mich an den Hasen aus Dürers Stich. Eine sehr freundliche Maus, recht groß, aber da Rokko unter den Zwergkaninchen auch eher zum großen Schlag gehörte und nicht unter geringem Selbstbewusstsein litt, klappte das gut. Die Vergesellschaftung unternahmen wir übrigens auf unserer Gartenterrasse, wo der Liebste zwei Ställe aufstellte und mit Gittern und Dach ein Gehege baute, das permanent dort bleiben konnte: für später notwendige Vergesellschaftungen oder als Krankenquarantäne.
Wir hatten also für einige Zeit Ruhe in Kaninchensachen mit jetzt sieben Tieren. Zwar hatten die fünf drinnen weniger Platz, als wir ihnen gern geboten hätten, aber es gab immerhin nicht ständig Klopperei. Mir tat es leid, dass Bella nicht buddeln konnte, das hätte sie gern gemacht (auch Hoppler hatte gern gebuddelt, wie es für die Weibchen eigentlich typisch ist, die anderen zeigten das Verhalten weniger). Das Freigehege hatten wir mit Platten ausgelegt, um zu verhindern, dass sich die Kaninchen nach draußen buddelten (oder sonst jemand rein, wir hatten immer wieder Marder im Garten), aber das bedeutete natürlich auch, dass sie diesen Teil ihres Verhaltensspektrums nicht richtig ausleben konnten. Das Gehege war zwar mit Einstreu und Stroh ausgelegt, aber das war ein unzureichender Ersatz. Wie in so vielen Bereichen in Sachen Kaninchenhaltung mussten wir auch hier Kompromisse eingehen, dir mir eigentlich gegen den Strich gingen.
Bella blieb nicht lange bei uns: Eines Tages entdeckten wir, dass sie das Auge nicht richtig öffnete, bei genauerem Hinsehen sahen wir einen Kratzer quer übers Auge. Der Besuch bei der Tierärztin zeigte, dass sie vermutlich eine Kralle oder Stroh ins Auge bekommen hatte, was zu einer Hornhautperforation geführt hatte. Jetzt kann Hornhaut bei Kaninchen durchaus wieder zuwachsen, man muss es aber natürlich behandeln und auch eine Infektion verhindern. Über die nächsten Tage mussten wir sie also zweimal täglich greifen, hochnehmen, ihr Augensalbe ins Lid setzen und ihr Antibiotika ins Futter geben. Das war für sie extrem stressig und sie zahlte einen hohen Preis dafür: Eines Morgens bemerkte ich, dass sie den Kopf merkwürdig schief hielt und Zuckungen hatte. Nun bin ich keine Veterinärin, aber die Symptome kamen mir bekannt vor, da zwei Bekannte von uns ihre Kaninchen an die gleiche Krankheit verloren hatten: Encephalitozoonose oder „Sternguckerkrankheit“, so genannt, weil die betroffenen Kaninchen den Kopf verdrehen und „zu den Sternen gucken“. Leicht romantisierender Name für eine schlimme Krankheit, bei denen Parasiten das Gehirn befallen und zerstören. Als wir Bella hochnahmen, hatte sie nicht nur den Kopf komplett verdreht, auch die Augen schauten in zwei verschiedene Richtungen und zuckten unkontrolliert, sie sah aus, als wäre sie schon kurz vorm Krepieren. Auch das war natürlich an einem Sonntag, sodass wir sie zum Notdienst brachten, der ganz unverblümt zum Einschläfern riet. Encephalitozoonose kann unter Umständen behandelt werden, bei einem so heftigen Ausbruch waren die Chancen allerdings sehr schlecht. Wahrscheinlich hatte Bella die Parasiten schon aus der Zuchtanlage mitgebracht (es ist nicht ungewöhnlich, das in Zuchtbetrieben der ganze Stall befallen ist), durch den Stress aufgrund der Augenverletzung hatte ihr Immunsystem sie dann nicht mehr in Schach halten können. Wir brachten also ein schwerkrankes Kaninchen zum Tierarzt und kehrten mit einem toten Kaninchen nach Hause zurück. Die Nachbarn begruben sie bei sich im Garten.
Damit war unsere Hasengruppe wieder nicht komplett und wir schafften es bis zum Ende nicht mehr, eine stabile Gruppierung zusammenzubringen. Wir führten als nächstes Rokko mit Milli und der Schwarzmaus wieder zusammen, was ganz gut funktionierte, aber insgesamt war es im hinteren Stall einfach zu eng und die Weißmaus war ja immer noch zu viel für sich. Wir beschlossen also, noch ein Kaninchen aus dem Tierheim zu holen: 2017 zog Muriel bei uns ein, ein grau-lohfarbenes Rexkaninchen mit stolzen 5 kg Gewicht und sehr liebenswertem Wesen. Sie bezog mit der Weißmaus zusammen das vordere Gehege, die beiden verstanden sich gut.
Leider hatte die Weißmaus sich von der Lippenverletzung nie richtig erholt, wie sich herausstellte, war auch einer der vorderen Zähne in Mitleidenschaft gezogen worden, und darunter hatte sich ein Abszess gebildet. Wir fuhren zum Tierarzt und ließen den Abszess ausräumen, aber er kam mehrfach wieder, die Weißmaus magerte ab und litt sichtlich unter Schmerzen. Beim letzten Tierarztbesuch, als die Ärztin ihn in Narkose legte, um den Eiterherd wieder auszuräumen, blieb das Herz stehen. Er wurde ca. sieben bis acht Jahre alt. Es tat mir extrem leid, dass wir ihm nicht helfen konnten und er auch wirklich Pech gehabt hatte, er war anfangs so ein fröhliches, neugieriges Kaninchen gewesen. Ich weiß nicht, ob er es bei uns wirklich gut getroffen hatte, aber ich weiß auch nicht, was wir anders hätten machen können. Wir begruben in vorne links an der Ecke und pflanzten ein paar Osterglocken bei ihm ein.
Muriel war also vorn allein und bekam als nächstes Rokko an die Seite, auch das klappte gut (Muriel war ein extrem soziales Kaninchen und stellte sich auf alle Partnertiere gut ein, auch wenn diese teilweise nur ein Drittel oder ein Viertel so groß waren wie sie – solange sie genug zu fressen bekam, war alles in Ordnung). Hinten waren Milli und Schwarzmaus und Rocky und Sunny zusammen, da die vier miteinander nie ein Problem gehabt hatten, hatten wir die Abtrennung weg gemacht und sie konnten den ganzen Ziegenstall benutzen.
Rokko ging es gut, er sah vernünftig aus und hatte ein gutes Gewicht – bis ich eines Tages eine große, geschwollene Beule zwischen seinen Hinterbeinen entdeckte. Es sah aus wie ein riesiger Abszess oder ein angeschwollenes Geschwür. Er saß zusammengekrümmt da und schien unter Schmerzen zu leiden. Da die Beule am Tag davor noch nicht zu sehen gewesen war, machten wir uns Sorgen und beschlossen, zum Notdienst zu fahren (natürlich war es wieder ein Sonntag). Die Ärztin im Notdienst stellte fest, dass der Hodensack extrem angeschwollen war, warum, konnte sie nicht genau sagen, vermutlich eine Entzündung oder ein Geschwür. Sie empfahl, es zeitnah (also am Montag) ansehen zu lassen. Wir fuhren also montags mit Rokko zur Tierärztin, die wir mittlerweile gewechselt hatten (unsere ursprüngliche Tierärztin hatte aufgehört zu arbeiten und wir waren seitdem in mehreren Praxen gewesen, nirgendwo so ganz zufrieden). Die Tierärztin am Montag hielt die Schwellung für nicht bedenklich, erklärte, dass es der Hoden sei (war dann etwas missmutig auf meinen Einwand, dass Rokko kastriert und deshalb gar kein Hoden mehr vorhanden war), sprach von einer unspezifischen Resthodenschwellung, die man aber mal beobachten könnte. Aber ob uns aufgefallen sei, dass er eine Zahnfehlstellung der hinteren Backenzähne hätte? Das war uns nicht aufgefallen, und da er immer problemlos gefressen und keiner der anderen Tierärzte etwas gesagt hatte, hatte ich auch ein bisschen meine Zweifel. Sie bestand aber darauf, dass man ihm auf jeden Fall in Vollnarkose die hinteren Zähne richten müsste. Ich stimmte zu, wenn sie dann bitte auch gleich die Hodenschwellung in Angriff nehmen würde, denn deshalb waren wir ja schließlich gekommen. Auch hier eine eher missmutige Reaktion.
Wir ließen Rokko also in der Praxis, am nächsten Abend nach der OP holte der Liebste ihn wieder ab: Am Hodensack war nichts gemacht worden (mit einer halbgaren Begründung, warum das nicht ginge), nur an den Zähnen. Wir sollten nächste Woche wieder kommen. Dazu kam es nicht mehr: Am Tag darauf lag Rokko tot im Stall. Keine Ahnung, was am Ende genau dazu geführt hat, aber eine sehr vertrauenserweckende Tierarztbehandlung war das nicht gewesen. Wir begruben ihn am hinteren Heckenrand, er wurde ungefähr sieben Jahre alt.
Muriel war also wieder allein vorne, so langsam wurde daraus ein Muster, das uns nicht gefiel. Es war aber fast etwas zwangsläufig, denn unsere Kaninchen waren alle schon ähnlich alt und starben deshalb nun recht schnell hintereinander. Muriel war deutlich jünger (als wir sie 2017 aus dem Tierheim holten, keine drei Jahre alt). Wir brachten also die Schwarzmaus und Milli nach vorn, diese Dreiergruppe verstand sich gut.
Die nächste mit Zahnproblemen war die kleine Sunny, die Ende 2018 mit dickem Hals im Stall saß: Auch hier stellte sich ein Abszess im Kiefer heraus. Sunny war wie gesagt sehr klein und zu diesem Zeitpunkt schon ca. zwölf Jahre alt, sie hatte bis jetzt nie etwas gehabt. Aber die Zahnprobleme bekam sie leider nicht in den Griff. Der Tierarzt (wieder ein anderer) gab ihr Schmerzmittel und Antibiotika, wagte aber aufgrund des hohen Alters keine Narkose mehr – damit waren wir einverstanden. Anfangs sah es so aus, als würde sie sich gut erholen, aber dann kam der Abszess leider wieder und einige Tage später lag sie tot im Stall.
Das war Anfang 2019, ein paar Tage, bevor ich zu meinem Sabbatical aufbrach und ein echter Stimmungsdämpfer. Wir begruben sie links vorne vor dem Holunderbusch, sie bekam ein paar Tulpenzwiebeln mit. Übrigens ist sie das einzige Kaninchen, das mich je ernsthaft gebissen hat, und das mit 1kg Gewicht! Natürlich während einer Nestbauphase, in der sie meine Hand wohl als „Konkurrenz“ betrachtete. Ihre Schneidezähne hinterließen zwei perfekt schräg ausgestanzte Wunden im Handrücken.
Wir setzten Rocky zu den anderen nach vorn ins Gehege, damit er nicht allein war. Er hatte mit den anderen keine Probleme, zog sich aber ziemlich zurück und fraß nur noch wenig. Ich brach dann nach England auf, dort nach zwei Wochen die Nachricht des Liebsten: Er hatte Rocky tot im Stall gefunden. Können Kaninchen an Trauer sterben? Auf jeden Fall war er unser unkompliziertestes Kaninchen gewesen, hatte den Tierarzt nur zum Impfen gesehen, hatte nie irgendwelche gesundheitlichen Probleme gehabt, und starb mit zwölf Jahren wenige Wochen nach seiner Schwester. Der Liebste begrub ihn direkt neben ihr unter dem Holunderbusch.
Kaum war ich aus dem Sabbatical zurück, war das nächste Kaninchen an der Reihe, und das war Milli – zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schon uralt. Sie bekam irgendwann Probleme damit, gerade zu stehen bzw. fiel um und konnte sich nicht mehr aufrichten oder aufsetzen. Auch der Fellwechsel funktionierte nicht mehr und sie magerte ab. Nachdem sie sich immer schlechter bewegen konnte, brachten wir sie – zwölf oder dreizehn Jahre alt – zum Einschläfern zum Tierarzt. Das war für sie definitiv eine Erlösung, auch wenn der Körper nicht nachlassen wollte: Der Arzt musste die fünffache Dosis spritzen, bis das Herz stehen blieb. Bei so zähen alten Knochen ist es nicht ungewöhnlich, dass sie ein besonders starkes Herz-Kreislauf-System haben, das noch weiter macht, wenn alles andere schon den Geist aufgibt. Das führt dann oft zu einem langen Dahinvegetieren und Todeskampf – deshalb war ich über den Tierarzt in diesem Fall sehr froh. Wir begruben sie vorn neben Sunny und den Tulpen.
Von unseren ganzen Kaninchen, die wir über die Jahre gehabt hatten, war es also die Schwarzmaus, die übrig geblieben war, er bildete mit Muriel zusammen das letzte Paar. Die beiden kamen gut miteinander aus, es war sehr nett anzusehen, wie sie kuschelten und sich gegenseitig das Fell putzten. Die Schwarzmaus war ebenfalls ein sehr robustes Kaninchen und hatte uns nie Probleme gemacht, nur dass er leider immer extrem scheu geblieben war. Das war zeitweilig so schlimm, dass er nicht fraß, solange wir in der Nähe waren. Blöd, wenn man sehen möchte, ob das Tier frisst (das wäre sonst ein schlechtes Zeichen). Als er jetzt alt wurde, nahm diese Scheuheit aber langsam ab, er blieb sitzen, wenn wir kamen, und wir konnten ihm sogar Futter aus der Hand geben. Das freute mich sehr. Er wurde dann so richtig, richtig alt mit den typischen Altersanzeichen: Der Fellwechsel klappte nicht mehr so richtig und das Fell wurde struppig und auch schuppig, er nahm ab und bewegte sich immer schlechter. Immer wieder fiel er um und konnte dann nicht mehr aufstehen, wir überlegten schon, ob wir ihn nicht zum Einschläfern bringen müssten. Aber er reagierte gut darauf, dass man ihm das Fell ausbürstete und ausdünnte und ihm die Gelenke durchbewegte, danach ging es ihm immer wieder einige Wochen gut. Und da er sonst gern fraß und schnuffelte und kuschelte, wollten wir ihm das eigentlich nicht nehmen. Eines Abends war es wieder so, dass er sich kaum bewegen konnte und nur auf der Seite lag. Wir massierten ihn noch einmal durch, was etwas half, und brachten ihn dann in die gepolsterte Kiste, um mit ihm am nächsten Morgen zum Tierarzt zu gehen. Dazu kam es aber nicht mehr, denn am nächsten Morgen lag er tot in der Kiste, Muriel neben ihm. Wir begruben ihn direkt neben Milli, mit der er sich am besten verstanden hatte.
Direkt nach seinem Tod begann der zweite Lockdown und das Tierheim machte zu. Dadurch konnten wir erst einmal nichts dagegen machen, dass Muriel allein war, natürlich kein optimaler Zustand. Der Lockdown fand kein Ende, das Tierheim machte nur Einzeltermine nach Absprache, wir beschlossen trotzdem anzurufen und zu fragen, ob sie für Muriel eine Lösung wussten. Dieses Vorhaben schoben wir dann allerdings etwas vor uns her, aus verschiedenen (vor allem beruflichen) Gründen. Für das Frühjahr hatten wir aber fest vorgehabt, Muriel wieder ein Partnertier zu besorgen. Und dann starb sie – jetzt vor anderthalb Wochen – plötzlich innerhalb von zwei Tagen. Sie hatte im Monat davor einen Tumor am Hinterbein gehabt, den wir ihr hatten entfernen lassen, außerdem einen Abszess am Kiefer. Beides hatte sie gut verkraftet, bis sie plötzlich gekrümmt und sehr schwer atmend im Gehege saß. Die Tierärztin erklärte, dass sie kaum Luft bekam und das aufs Herz drückte, warum, war nicht klar. Unsere Vermutung war, dass der Tumor gestreut hatte und sie Wasser in der Lunge einlagerte. Während wir noch überlegten, ob es Behandlungsoptionen gab oder nur das Einschläfern blieb, lag sie tot im Stall. Wir begruben sie unter dem alten Apfelbaum und pflanzten ihr zwei Lavendelstöckchen ein.
Muriels Tod machte mich extrem traurig: Nicht nur, dass er sehr überraschend kam und bei einem recht jungen Kaninchen (sie war ca. sechs Jahre alt), und nicht nur, dass sie ein extrem liebenswertes, freundliches und neugieriges Kaninchen gewesen war (das einzige unserer Kaninchen, das richtig zum Kuscheln herkam, sich an uns drückte und den Nasenrücken streicheln ließ), und nicht nur, dass sie als graugold schimmerndes Rex-Kaninchen sehr hübsch gewesen war. (Alle unsere Kaninchen waren sehr hübsch.) Mit ihrem Tod endete auch ein langer Zeitraum: Wir hatten von 2009 bis 2021 Kaninchen gehabt, insgesamt hatten wir uns um 13 verschiedene Tiere gekümmert, bis zu acht gleichzeitig. Dass wir jetzt keine mehr haben, bedeutet schon eine sehr große Leerstelle.
Ich bin nicht sicher, ob wir unseren Tieren gerecht geworden sind. Kaninchen haben das unglaubliche Pech, sehr niedlich auszusehen und gleichzeitig als Fluchttiere bei Gefahr still zu halten und sich nicht zu wehren, was dazu führt, dass man sie prima als Labortier quälen oder als Kinderspielzeug dem Nachwuchs zum Fraß vorwerfen kann (Kinder „spielen“ Kaninchen oft tot, Kaninchen in Kinderhand haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 2 Jahren, normalerweise 10 bis 12 Jahre). Will man sie richtig halten, artgerecht, also so, dass sie ihre arttypischen Verhaltensweisen ausleben können, dann kommt man sehr schnell an Grenzen. Selbstverständlich verbieten sich alle Ideen von Streicheln, Knuddeln, Hochheben und Rumtragen von selbst (damit sind Kaninchen die für Kinder ungeeignetsten Tiere, die man sich vorstellen kann, vergleichbar mit Hamstern, Meerschweinchen und Chinchillas, auch die gehören nicht zu Kindern). Aber auch darüber hinaus wird es schwer:
Kaninchen sollten im Freien gehalten werden, dort einigermaßen wind- und regengeschützt, vor allem aber absolut sonnengeschützt (sie kommen mit Hitze quasi überhaupt nicht zurecht, während unsere auch bei minus 20 Grad fröhlich draußen saßen). Das Gehege muss rundum einbruchsicher gestaltet sein, gegen Durchwühlen (hallo, Marder und Füchse) und Angriffe von oben (hallo, Milan) gesichert. Trotzdem sollten sie eigentlich zwingend die Möglichkeit haben, sich Bauten anzulegen, das gehört zu ihrer Natur, also müsste das Gehege nach unten gesichert sein (ein typischer Vorschlag ist, dass man das Gehege zwei Meter tief aushebt, unten ein Gitter einlegt und dann wieder verfüllt). Für die Sicherung bräuchte man eigentlich einen Kleinbagger: Denn der Platzbedarf pro Kaninchen ist mindestens zwei bis vier Quadratmeter, mehr wird gern genommen. Ach, und habe ich schon erwähnt, dass die Tiere in Gruppen von vier, besser sechs bis zehn Tieren leben? Natürlich in einem großen, gesicherten Gehege mit viel Platz zum Ausweichen? Kaninchen dürfen nicht allein gehalten werden, aber auch die Paarhaltung ist eigentlich nur eine Zwangsgemeinschaft, die Probleme mit sich bringt.
Natürlich müssen die Böckchen alle kastriert werden, will man nicht von Kaninchenbabys überschwemmt werden, das ist allerdings keine Garantie für Prügeleien (übrigens prügeln sich auch die Weibchen ab und zu, die alten Tiere werden sowieso gnadenlos angegangen). Man hat also genug mit Verletzungen zu tun, sofern man nicht für eine stabile Gruppendynamik sorgt (die sich mit jedem Krankheits- und Todesfall wieder ändert).
Über die Verletzungen hinaus haben Kaninchen generell nicht die robusteste Konstitution, ihr evolutionäres Erfolgsrezept ist der massenhafte Nachwuchs, wenn dabei viele Kaninchen sterben, ist die Art immer noch gesichert (kein Wunder sind Kaninchen Hauptfutterquelle vieler Beutegreifer). Man hat also immer wieder mit dem Tierarzt zu tun, wenn man sie nicht einfach krepieren lassen will (und das will man nicht, denn „artgerecht halten“ heißt nicht, dass man keine Verantwortung übernehmen müsste – wenn man das Tier in Gefangenschaft hält, braucht man sich nicht auf die „Natürlichkeit“ zu berufen). Man kann oft auch nicht einfach abwarten, stellt das Kaninchen das Fressen ein, muss man am gleichen Tag zum Arzt, denn die Tiere haben einen sogenannten „Stopfdarm“, also eine träge Darmperistaltik, die nur dann richtig funktioniert, wenn von oben ständig Raufutter nachgefüllt wird. Im Darm liegendes Futter gärt sehr schnell, die Tiere gasen dann auf und haben eigentlich keine Chance mehr. Dass ein Kaninchen nie nüchtern sein darf, bedeutet übrigens auch, dass manche Laborwerte bei ihm schwer zu bestimmen sind und die Narkose kniffliger wird, wie wir leidvoll erfahren mussten.
Wenn sich also jemand mit dem Gedanken trägt, sich Kaninchen anzuschaffen, ist mein ganz klarer Rat: Lass es bleiben. Erst recht, wenn man wie wir Vollzeit arbeitet und nie so intensiv nach den Tieren schauen kann, wie es nötig wäre.
Deshalb ist unsere eindeutige, vernunftgeleitete Reaktion: Keine Kaninchen mehr. Unsere Kaninchenzeit ist vorbei. Es macht einfach keinen Sinn.
…aber es ist so eine Leerstelle im Leben. Morgens geht der Blick automatisch Richtung Garten. Und es gibt so viele, die Hilfe bräuchten und einen Platz! Auch wenn es unvernünftig wäre.
Die Ställe sind auf jeden Fall noch nicht abgebaut.
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