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Willst du die Bahn, oder willst du sie nicht?

Der 26. September ist für meine seit mittlerweile 22 Jahren Heimatstadt nicht nur der Tag der Bundestagswahl, sondern auch ein verkehrspolitischer Wahltag: Wir stimmen in einem Bürgerentscheid über eine Regionalstadtbahn für Tübingen ab.
Wobei das nicht stimmt, und das ist schon ein erster kleiner Hinweis auf eine ganze Menge Probleme mit diesem Bürgerentscheid. Die Regionalstadtbahn steht nämlich, auch wenn es oft so verkürzt dargestellt wird, gar nicht zur Abstimmung, sie ist längst entschieden und wird teilweise schon gebaut. Es geht nur um die Tübinger Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn, genauer gesagt: eine straßenbahnähnliche Verbindung vom Hauptbahnhof über Karlsstraße, Neckarbrücke, Mühlstraße und Wilhelmstraße bis zu den Kliniken, dem Technohügel und WHO. Klingt nach einem ziemlich gigantischen Projekt, ist es auch. Zweispurige Straßenbahnlinien quer durch eine Stadt zu legen, auch noch so eine hügelige Stadt mit teilweise so engen Straßen? Hm.

Das erste Bauchgefühl ist: Also Straßenbahn, klar, cool, aber der Weg geht doch nicht, das kann ich mir nicht vorstellen. Durch diese Strecke eine Straßenbahn, das ist ja total eng, da hat ja nichts anderes mehr Platz. Andererseits: Auf dieser Strecke fahren jetzt durchgehend Autos und Stadtbusse zweispurig. Da ist also auch für nichts anderes mehr Platz – außer halt für Autos. Daran hat man sich eben nur gewöhnt, das ist in einer Innenstadt sozusagen der Normalfall, das fällt nicht mehr auf. Müsste aber nicht so sein.
Also ein bisschen weiter darüber nachdenken und Argumente lesen. Der Hauptgrund für die Innenstadtstrecke, heißt es, sind die Berufspendler, die zu Zehntausenden jeden Tag nach Tübingen fahren. Kein Wunder, denke ich mir, bei den Wohnpreisen hier kann man niemandem einen Vorwurf machen, der bezahlbaren Wohnraum außerhalb sucht und findet (das hält eine Menge Alteingesessener allerdings nicht davon ab, den Pendlern trotzdem Vorwürfe zu machen, dass sie für sich und ihre Familien keine Zweieinhalbzimmerwohnung für 60% des verfügbaren Einkommens möchten – nach der sie dann auch noch ein Jahr suchen müssten). Man könnte in dem Zusammenhang natürlich auch ein bisschen über sinnvolle Wohnpolitik nachdenken und darüber, ob man immer noch mehr und noch mehr Firmen und Forschungsinstitute in eine Stadt ziehen muss, die sowieso schon aus allen Nähten platzt. Das wird als Argument interessanterweise aber nie genannt.

Pendler also, die angeblich alle in Massen auf die Bahn umsteigen würden, wenn sie nicht am Bahnhof den Bus nehmen müssten, sondern im Zug sitzen bleiben könnten. Wobei dieses „in Massen“ schon das nächste Problem zeigt, es handelt sich nämlich um eine Prognose zukünftiger Pendlerströme, und wie diese Prognose von wem mit welcher Expertise und unter welchen Vorannahmen erstellt wurde – das ist, wie ich bald feststelle, ausgesprochen intransparent.

Das ist das Grundübel dieses Bürgerentscheids: Man stimmt über weitreichende Zukunftspläne ab auf Basis von angenommenen Zahlen, die je nach Lager völlig unterschiedlich angegeben, bewertet und interpretiert werden. Und bei dieser Informationslage kann man keine „informierte Entscheidung“ treffen. Statt Argumente zu nennen, die sich auf Fakten beziehen, sodass ich dann sinnvoll entscheiden könnte, welches dieser Argumente ich für am tragfähigsten und stichhaltigsten halte, werden bereits die Fakten und damit die Legitimität der Argumente angegriffen.
Anderes Beispiel neben den Pendlerströmen? Die CO2-Bilanz ist mit der Stadtbahn viel besser, sagen die Befürworter. Aber nur, wenn wirklich so viele Leute das Auto stehen lassen wie erhofft, sagen die Gegner. Nein, auch im Vergleich zum Bus, sagen die Befürworter, weil der Bus mit Diesel fährt. Aber die Stadtbusse werden zurzeit sowieso alle durch Elektrobusse ersetzt, sagen die Gegner, außerdem habt ihr vergessen, dass beim zukünftigen Individualverkehr ein zunehmend größerer Teil ebenfalls E-Autos sein werden. Stimmt nicht, sagen die Befürworter, haben wir mit eingerechnet. Nein, habt ihr nicht richtig, sagen die Gegner. Doch, haben wir wohl, sagen die Befürworter. Da ist aber jetzt eines von beiden Lagern nicht ganz ehrlich, sage ich mir.

Womit wir beim nächsten Punkt wären, der Ehrlichkeit und allgemein gesprochen den Umgangsformen in der Diskussion um die Stadtbahn, und der OB ist leider ein Teil davon.
Der OB hat eine Tendenz, mit Zahlen „kreativ“ zu werden, wenn es ihm in den Kram passt, sei es bei der angeblichen gesteigerten Kriminalität von ausländischen Flüchtlingen, bei der angeblich großartigen Bilanz des „Tübinger Modellprojekts“, das für eine Vervierfachung der Covid-Infektionen sorgte, oder eben jetzt bei den Zahlen zur Stadtbahn. Letzte Woche erst ließ er sich mit der Aussage zitieren, die Stadtbahn-Gegner hätten in ihrem Gutachten Zahlen zur erwarteten CO2-Einsparung und zu den Pendlern vorgelegt, er habe aber „nachgerechnet“ und käme mit „seinen“ Zahlen zu anderen Ergebnissen. Ein für Zahlentrickserei bekannter OB, der es besser zu wissen meint als die Fachleute aus den Gutachten und „eigene“ Zahlen präsentiert: Großartig, da wächst doch gleich das Vertrauen. Die Diskussion um die Stadtbahn hat er von Anfang an emotionalisiert und an seine Person geknüpft. Das wäre eigentlich für sich schon ein Argument, mit Nein zu stimmen: Vielleicht tritt er zurück, wenn er verliert? (Wird nicht passieren, dafür ist er viel zu narzisstisch.) Und das Ganze passierte natürlich nicht im luftleeren Raum: Der OB und ein paar Vertreter der „Gegenseite“ nutzten das Szenario auch für einen massiven Pimmelcontest. Wie könnte es anders sein.

Ein Grund, warum die Debatte so aufgeregt in der Stadt geführt wird, ist neben dem Öl ins Feuer gießenden OB die Tatsache, dass es sich um eine ausgesprochen komplexe Fragestellung handelt, die dann auch noch mit moralischen Labels verbunden wurde („Bist du für den Klimaschutz und für eine lebenswerte Stadt für unsere Kinder? Dann stimm mit JA!“ – als ob es so einfach wäre). Das ist das Hauptproblem, das ich mit diesem Bürgerentscheid habe: Man fragt mich „möchtest du eine Straßenbahn in der Stadt, ja oder nein?“ – und meine ehrliche Antwort ist: Ich habe nur ein Bauchgefühl, ich will darüber nicht entscheiden müssen. Ich bin verdammt noch mal keine Städteplanerin, keine Straßenbauingenieurin und keine Expertin für Umweltprognosen. Es ist mir nicht möglich, aus dem Wust an aufgeregten Informationen eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, mir fehlt schlicht und ergreifend die Expertise dafür. Solch eine hochkomplexe Fragestellung hätte niemals Thema eines Bürgerentscheids werden dürfen. Und jetzt stehen wir vor einer Situation, bei der am Ende vermutlich alle unzufrieden sein werden.

Bis vor ein, zwei Jahren hätte ich relativ spontan „ja klar“ gesagt, wenn man die Frage nach einer Straßenbahn für die Stadt gestellt hätte. Und hätte mich dann darauf verlassen wollen, dass solche Dinge wie technische Machbarkeit, Finanzierbarkeit und ökologischer Impact von Expert:innen bewertet und beurteilt werden und auf dieser Grundlage dann eine sinnvolle Entscheidung getroffen wird – vielleicht auch, indem mir als Bürgerin dann 2-3 Alternativen vorgelegt werden, nachdem die Fakten besprochen und analysiert wurden. Wunschdenken, ich weiß, aber das wäre meiner Meinung nach der richtige Weg und die Aufgabe der politischen Vertretung gewesen. Jetzt aber bin ich in der Situation, am Ende der Debatte eigentlich nicht abstimmungsfähig zu sein.

Ich halte direkte Demokratie unter den richtigen Umständen durchaus für sinnvoll. Aber bei komplexen Problematiken ist das Risiko, dass die Wählenden manipuliert und emotionalisiert werden und dadurch dieses Instrument missbraucht wird, einfach viel zu hoch (Brexit, anyone?). Ich ärgere mich, dass man mir eine Entscheidung aufnötigt und diese dann auch noch moralisch auflädt. Als eigentlich große Verfechterin der Demokratie ist das tatsächlich eine Situation, in der ich jetzt darüber nachdenke, meine Stimme nicht abzugeben. (Liegt die Wahlbeteiligung im Übrigen bei unter 20%, dann geht die Entscheidung an den Gemeinderat zurück, wo sie meines Erachtens auch hingehört). Egal, wie die Sache ausgeht: Der Diskussionskultur, dem Demokratie-Interesse der Bevölkerung, dem Dialog der Generationen hat der anstehende Bürgerentscheid jetzt schon einen Bärendienst erwiesen.