Das ganze Elend, Sonntag 23.10.2022

Urlaub, Sonntag, also klar, dass wir beide um halb sechs aufwachten. Noch etwas blieben wir liegen, so bis ungefähr halb sieben, dann waren wir endgültig wach und ein Kater wartete, also standen wir auf. Erst einmal Tee, Fütterung und ein Blick in den Karton, den der Liebste am Vortag vom Bodensee mitgebracht hatte. Vom Aussehen her hatte ich mit einer Weinlieferung gerechnet, es waren aber „nur“ drei Flaschen Merlot, der Rest waren Johannisbeer-, Trauben- und Cranberrysaft. Auch okay. (Nur etwas schwierig, auf einen Schlag 15 Flaschen unterzubringen.)

Ziemlich frühes Frühstück, weil wir beide Hunger hatten, obwohl das Abendessen am Samstag ziemlich spät gewesen war, oder vielleicht auch deswegen. Auf jeden Fall gab es das traditionelle englische Frühstück, danach viel Kaffee, ich schrieb ein bisschen und las mich durchs Internet. Leichte Kopfschmerzen, aber eigentlich fühlte ich mich ganz okay und das Wetter sah auch gut aus, ein schöner Sonne-Wolken-Mix. Um Viertel nach zehn stieg ich also in die Laufsachen und motivierte den Liebsten, mit mir eine Runde laufen zu gehen.
Das Laufen klappte bei mir prima, ich hatte gar nicht das Gefühl, so richtig an die Laufgrenze zu kommen – vermutlich hätte ich die Gehpausen noch mehr verkürzen können. Nur beim Liebsten ging es nicht so rund, anfangs tat er sich schwer, in den Rhythmus zu kommen, alles war anstrengend, und ungefähr auf der halben Strecke verknackste er sich dann auch noch den Knöchel. Also nicht so richtig, aber so, dass es jetzt nicht gerade zum flüssigsten Lauf aller Zeiten für ihn wurde. Wir trabten trotzdem brav nach Hause und hatten wenigstens nicht weniger gemacht als sonst, aber halt auch nicht mehr. Was aber auch völlig okay ist.

Daheim gab es eine schnelle Dusche, dann holten wir unsere Wahlbenachrichtigungen und gingen zur Grundschule im Stadtviertel: Es war OB-Wahl und wir wollten dringend unseren Teil dazu beitragen, den unsäglichen, widerwärtigen, schlimmen Amtsinhaber abzuwählen. Also einmal ein Kreuzchen gemacht, dann gingen wir heim und machten die zweite Hälfte Kichererbsencurry heiß (ein Rest kam in die Tiefkühltruhe).
Und dann wollte ich ein bisschen Ruhe haben. Draußen war es zwar immer noch schön, aber ich hatte überhaupt keine Lust auf Pläne oder Bewegung oder auch nur soziale Interaktion. Also holte ich mir ein Buch für die Mittagspause und weihte den neuen Sessel ein. Der steht zwar im Moment noch mitten im Esszimmer, aber drauf sitzen kann man ja trotzdem schon.
Hm, und das war es dann, die „Mittagspause“ dehnte sich aus, der Liebste stellte mir irgendwann ein paar Dominosteine und eine Tasse Tee hin, und ich ließ mich vom Buch einsaugen. Das Buch übrigens: Ten Steps To Nanette von Hannah Gadsby. Schon nach den ersten zwei Kapiteln: große Leseempfehlung. Irgendwann wechselte ich vom Sessel aufs Sofa, noch irgendwann später (so gegen fünf) wurde mir kalt, ich verschwand unter einer Decke und der Liebste machte ein Feuer im Ofen, und da blieb ich dann für den größten Teil des Tages.

Gegen sieben begann mir von der langen Rumlümmel-Zeit so allmählich der Rücken weh zu tun und ich bekam das Bedürfnis, aus den Tiefen des Buches wieder aufzutauchen. Außerdem war es Abendessenszeit. Der Liebste und ich gingen also ans Kochen, also eigentlich kochte der Liebste. Ich schenkte uns währenddessen zwei Bier ein und ließ dann etwas Musik laufen – ein guter Vorsatz für die nächsten Wochen ist, dass ich wieder etwas mehr Musik hören möchte. Wir hören ja kein Radio, ich probierte also ein paar Spotify-Playlists und ließ außerdem den Rezept-Musikvorschlag aus dem Ox-Kochbuch laufen, im Kochbuch wird zu jedem Rezept ein begleitendes Lied vorgeschlagen.
Das Rezept nannte sich „Kretische Kartoffeln mit Bohnen“, im Endeffekt gewürfelte und gedünstete Kartoffeln mit grünen Bohnen und Olivenöl. Wir schnitten noch ein paar Oliven und einen Feto dazu, was sehr gut passte.
Dann Abendessen, dazu etwas Blaulichtporno und eine Runde nach Atlantis. Wir machten gemeinsam den italienischen Rosé aus dem Kühlschrank leer und zu guter Letzt schenkte der Liebste noch einen Fingerbreit zwölfjährigen Fettercairn ein.

Und das hätte dann alles ein richtig gemütlicher Abend nach einem richtig gemütlichen Sonntag sein können. Wenn ich nicht um acht auf die Seite der lokalen Tageszeitung gegangen wäre und mir dort das ganze Elend entgegengefallen wäre: Unser OB, dieser Rassist, dieser frauenverachtende, narzisstische, egoistische, machtverliebte Mensch ohne einen Funken Anstand, ist im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit wiedergewählt worden.
Man kann (und sollte) gut darüber nachdenken, was schief gelaufen ist, dass diese Katastrophe für diese Stadt passieren konnte (und es ist eine Katastrophe, der OB hat in den letzten Jahren so viel Schaden in der Stadt angerichtet, wie sich Leute von außerhalb vermutlich kaum vorstellen können, und das wird jetzt aller Voraussicht nach nicht besser werden). Die Grünen, die nicht genug Eier_stöcke in der Hose hatten, diesen unsäglichen Menschen aus der Partei zu werfen, und stattdessen über Jahre rumgeeiert (haha) haben, tragen sicherlich einen großen Anteil Schuld daran. Und es war auch nicht hilfreich, dass die Orts-SPD, nachdem sie bei der letzten Wahl noch den Schwanz eingekniffen und keine eigene Kandidatin aufgestellt hatte, jetzt eine sehr starke Kandidatin ins Rennen brachte, damit aber in direkte Konkurrenz zur grünen OB-Herausforderin ging – es wäre m.E. dringend nötig gewesen, hier die linksdemokratischen Kräfte zu bündeln.
Der für mich entscheidende Punkt, und derjenige, der mir so richtig auf der Seele liegt, ist aber dieser: Aus dem Blickwinkel von 50% der Menschen ist gar nichts schief gelaufen. Jeder zweite Mensch in dieser Stadt hat überhaupt kein Problem damit, einen Rassisten im Rathaus sitzen zu haben. Findet das nicht nur tolerierbar, sondern ein nicht unbeträchtlicher Teil ist wahrscheinlich sogar froh, sich hinter ihm verstecken zu können und seine eigenen fremdenfeindlichen Ressentiments damit legitimiert zu sehen. Ohne sich als schmuddelig und „rechts“ zu fühlen, denn man ist ja schließlich links und öko und alternativ und intellektuell in dieser Uni-Stadt, und wenn dann einer im Rathaus rumpöbelt und Schwarzen, Frauen, Arabern, Geflüchteten gegenüber aggressiv und beleidigend ist, dann euphemisiert man das als „ein OB mit Ecken und Kanten“ und „der traut sich was“, weil man sich selbst nämlich nicht traut, sich den eigenen Rassismus einzugestehen.
Wer ein Rassist ist, wie unser OB, ist ein schlechter Mensch, und wer einen Rassisten wählt, nun ja, was ist der? Ich kann es wirklich nicht positiv zurechtbiegen. Und das betrifft leider Gottes die Hälfte der Menschen in der Stadt, in der ich wohnen soll, was sich ausgesprochen schlecht anfühlt. Und deshalb endete dieser Abend mit Fettercairn.